Alles fließt – doch wohin?
Ein etwa 300 Quadratkilometer großes Gebiet in Luxemburg stand acht Jahre lang unter besonderer Beobachtung. Forschungsgruppen aus ganz Europa analysierten das Einzugsgebiet des Flusses Attert, Drohnen überflogen es mit Wärmebildkameras, Satelliten maßen die Abstrahlung, zugleich standen Forscherteams auf den Feldern und bestimmten die Beschaffenheit des Bodens. Die Daten wurden in Computer eingespeist, die aufwändige Modellrechnungen durchführten, all das mit dem Ziel ein Rätsel zu lösen, das die Menschen seit Beginn des Ackerbaus beschäftigt: Wie verhält sich Wasser auf der Erdoberfläche und im Boden? Diese Frage ist nicht nur relevant für die Landwirtschaft, sie ist auch zentral für das Verständnis der Auswirkungen des Klimawandels oder für die Vorhersage der Folgen von Naturkatastrophen. Dennoch ist unser Verständnis lückenhaft, Faktoren wie die Vegetation machen die Situation komplex. Diese Komplexität zu beherrschen, war das Ziel des internationalen Projekts CAOS, kurz für „Catchments as Organized Systems“, auf deutsch „Einzugsgebiete als organisierte Systeme“, mit Beteiligung von Forschungsgruppen aus Österreich, Deutschland und Luxemburg. Ein Teil des Projekts wurde von dem Hydrologen Karsten Schulz von der Universität für Bodenkultur in Wien geleitet und vom Wissenschaftsfonds FWF finanziert. Die Wiener Gruppe beschäftigte sich dabei besonders mit der Analyse von Wärmebildern von Drohnen und Satelliten und untersuchte sie mit neuen Methoden.
Lückenhafte Daten
Schulz erklärt die Herausforderungen beim Verständnis von Wasserflüssen auf der Erdoberfläche: „Es beginnt mit Niederschlag, das ist vielleicht die schwierigste Komponente, weil wir ehrlich gesagt nicht genau wissen, wie viel Regen eigentlich fällt.“ Es gibt bodengestützte flächige Radarmessungen und Punktmessungen von Wetterstationen, doch dazwischen bleibt vieles unklar. „Gerade im alpinen Bereich sind die Messungen sehr fehlerbehaftet“, so Schulz. Abflussmessungen, also die Wassermengen in Flüssen, beherrsche man relativ gut, besonders schwierig sei allerdings, die Verdunstung von Wasser von der Erdoberfläche zu bestimmen. „Dazu gibt es gerade in Österreich wenige Daten, weil kaum Messstellen vorhanden sind“, sagt der Forscher. Eine weitere Schwierigkeit liege in der Komplexität und Veränderlichkeit des Bodens: „Sehr häufig werden Abflussgeschehen nach Niederschlägen über Grobporenstruktur des Bodens gesteuert. Diese Poren werden unter anderem von Regenwürmern gebildet, weshalb es in dem Projekt eine eigene Arbeitsgruppe gab, die Regenwurmlöcher untersucht und versucht hat, diese zu quantifizieren und ihre Beschaffenheit vorherzusagen.“
Kühleffekt durch Verdunstung
Der Fluss Attert wurde ausgewählt, weil sein Einzugsgebiet ein besonders dichtes Netz an Messstationen hat – ein perfektes Testgebiet also, um Modelle zu verfeinern und ein möglichst vollständiges Bild aller Vorgänge zu entwickeln. Die Aufgabe der Gruppe um Schulz bestand in der Fernerkundung, das heißt in der Beobachtung der Vorgänge aus der Luft unter anderem mit Wärmebildkameras. „Wir haben uns das Gesamtsystem über Thermal-Fernerkundung angeschaut, das Einzugsgebiet so von der Funktionsweise her charakterisiert“, sagt Schulz. Die Temperatur der Landoberfläche lässt Rückschlüsse auf die Verdunstung zu. Wo die Oberflächentemperatur heiß ist, findet weniger Verdunstung statt. Dort ist weniger Wasser vorhanden, der Kühleffekt über die Verdunstung fehlt. Dort wo Wasser vorhanden ist, wird die Energie für die Verdunstung genutzt und die Temperaturen sind niedriger. Doch Wärmebilder allein sind nicht aussagekräftig genug, weshalb die Forschungsgruppe diese mit konventionellen Kamerabildern kombinierten. Dazu hat die Gruppe um Schulz Aufnahmen aus zehn Jahren untersucht. Diese Daten wurden einer sogenannten Hauptkomponentenanalyse unterzogen. Dieses Verfahren erlaubt es, in großen Datenmengen die relevanten Strukturen zu identifizieren. Das Ziel sei es gewesen, Bereiche zu bestimmen, die sich hydrologisch ähnlich verhalten. „Wir haben die Daten aus diesem Gebiet außerdem genutzt, um die Vegetation zu charakterisieren und zu klassifizieren, und um daraus schließlich Bodeneigenschaften ableiten zu können“, erklärt der Forscher.
Genaues Modell als Ziel
Die Erkenntnisse von Schulz und seinem Team wurden, gemeinsam mit den Ergebnissen der anderen internationalen Gruppen, in ein neues Modell des Wasserflusses in der Attert-Region integriert. „Unsere Arbeiten wurden dabei dafür genutzt, die räumliche Auflösung von Luftbildern zu bestimmen, die notwendig ist, um alle relevanten Eigenschaften der Landschaft abzubilden, und zu bestimmen, wie Bodeninformationen in das Modell eingehen können.“ Das neue Modell sei ein großer Fortschritt, so Schulz zu den Ergebnissen des Grundlagenprojekts: „Bisherige hydrologische Modelle, wie wir sie traditionell auch im Verbund in der Zufluss-Hochwasservorhersage nutzen, haben diese Wechselwirkung des Wassers mit der Vegetation im Boden in der Regel nicht implementiert.“ Die neuen Erkenntnisse ermöglichen bessere Vorhersagen für die Landwirtschaft und für die Folgen von Hochwassern. Das Projekt CAOS lief in zwei Phasen seit 2011 und wurde Ende 2019 abgeschlossen.
Zur Person Karsten Schulz ist Hydrologe und Leiter des Instituts für Hydrologie und Wasserwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien. Er interessiert sich besonders für die Modellierung von Umweltsystemen und Fernerkundung in der Hydrologie.
Projektwebsite: http://www.caos-project.de
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