Abseits vom Mainstream
Februar 2015. Concertgebouw Amsterdam. Gegeben wird die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss. Ein 45-Minuten-Stück, hundert Musikerinnen und Musikern des renommierten Königlichen Concertgebouw-Orchesters auf der Bühne. An diesem Abend erlebt das Publikum eine Weltpremiere: Erstmals kommt ein Computer zum Einsatz, der Musik erkennen und verstehen kann. Die Maschine erkennt, wo das Orchester gerade ist, und bietet zusätzlich Informationen wie zum Beispiel, welche Mittel Strauss verwendet hat, um diese Klangfarben zu erzeugen. Das mit Tablets ausgestattete Publikum kann Partitur und Informationen live mitlesen.
Die lernende Maschine
Das dafür benötigte Synchronisierungsprogramm wurde von einem Forschungsteam um Gerhard Widmer entwickelt – in seinen beiden Labors am Institut für Computerwahrnehmung der Universität Linz und am Institut für Artificial Intelligence Wien. „Was der Computer verarbeitet, sind Audiosignale. Er muss in Sekundenbruchteilen erkennen, dass Musik gespielt wird und welches Stück. Den Notentext hat er gespeichert, aber er muss auch die Interpretation live erkennen“, erklärt der Informatiker. Der Rechenaufwand dabei ist enorm: 45 Minuten Musik sind 240 Millionen Zahlen oder 3,8 Milliarden Bits. Und vor allem: Die Software muss nicht nur Musik erkennen, sondern diese auch in Echtzeit weiterverfolgen. Wobei: programmieren kann man das nicht. „Wir speisen rohe Daten ein und die Maschine muss selber lernen. Bei machine learning und deep learning geht es genau darum, immer mehr Rohdaten einspeisen zu können, aus denen der Computer lernt“, erläutert Gerhard Widmer die Richtung, in die sich sein Fach der Artificial Intelligence entwickelt. <iframe src="https://player.vimeo.com/video/136184873" width="650" height="365" frameborder="0" allowfullscreen="allowfullscreen"></iframe>
Copyright: FWF/Ethan Vincent
Neues Publikum für klassische Musik
„Mit unserem Programm könnten Konzert- und Opernhäuser ihre Live-Streams mit Informationen anreichern“, nennt der österreichische Informatiker mögliche Anwendungen. Der Gedanke dahinter: die klassische Musik möchte neue und jüngere Publikumsschichten gewinnen. Das ist auch das erklärte Ziel des EU-Projekts „PHENICX“, im Rahmen dessen dieser System-Test in Amsterdam stattgefunden hat.
START-Schuss
Widmers Forschung in diese Richtung beginnt mit dem START-Programm, das ihm der FWF 1998 zuerkannt hat. „Damit wurde meine Forschung zu einem anerkannten und relevanten Thema“, erinnert sich der Professor der Universität Linz, und fügt hinzu: „Es war damals eine knappe Entscheidung, weil die Jury
„Die Jury hatte Zweifel an der Realisierbarkeit meines Projekts.“
Zweifel an der Realisierbarkeit meines Projekts hatte. Jetzt zweifelt, glaub ich, niemand mehr daran“, schmunzelt er. Und spielt dabei auf weitere hohe Auszeichnungen an: 2009 erhält Widmer den Wittgenstein-Preis – Österreichs höchst dotierten Wissenschaftspreis –, der ihm ermöglicht, an seinen Methoden weiterzuarbeiten. Es folgt eine weitere hohe Auszeichnung. Anfang 2015 erhält Gerhard Widmer für sein Projekt „Con Espressione“ einen der international renommierten ERC Advanced Grants des Europäischen Forschungsrats.
„Con Espressione“
Im Rahmen dieses Projektes möchte Widmer seine zwei Forschungsrichtungen zu einer Synthese zusammenführen: Das Ziel sind Computer, die Musik auf der Ausdrucksebene wahrnehmen können. „Sie sollen Emotionen erkennen, wahrnehmen, ob die Musik fröhlich, leicht, aggressiv oder zögerlich ist. Ich möchte einen Prototypen bauen, der mit Musikerinnen und Musikern interagiert, der sich auf das Spiel, auf Tempo, Ausdruck und Intention einlässt und mitspielt“, nennt Widmer seine Ambitionen. Der Mensch wird dabei allerdings nie ersetzbar sein, ist sich der Wissenschafter sicher: „Menschliche Wahrnehmung ist zu komplex.“
„Der Bub muss ins Gymnasium“
Aufgewachsen in einem 600-Seelen-Dorf nahe Bregenz, ist dem 54-Jährigen eine wissenschaftliche Karriere nicht in die Wiege gelegt, ist er gar der erste aus dem Dorf, der ein Gymnasium besucht. „Ein Lehrer-Ehepaar, das von außerhalb kam, meinte: „Der Bub muss ins Gymnasium“, erinnert er sich. Im Dorf ist es auch unüblich, dass er mit 7 Jahren mit dem Klavierspielen beginnt. Darin wird er so erfolgreich, dass er sich auf dem Weg zu einer Musikerkarriere befindet. Bis das heranwachsende Talent mit 15 Jahren feststellt: Er ist zu faul zum Üben. Mit einer halben Stunde täglich würde er kein „Weltmeister“ werden.
Computer und Logik
Für den vielseitig Interessierten ist schließlich die Studienwahl nicht eindeutig. In der Schule ist Widmer in allen Fächern gut. Als er ein Studienbuch der Technischen Universität (TU) Wien zur Informatik durchschaut, ziehen ihn zwei Wörter besonders an: Computer und Logik. Wobei der Computer damals noch etwas Mysteriöses für ihn ist. „1979 hatte niemand jemals einen leibhaftigen Computer gesehen“, lächelt der Wahl-Wiener. Die wissenschaftliche Karriere, die dann folgt, nennt er „Zufall“. Offenbar fällt ihm alles leicht, was er macht. Nach dem Studium geht Widmer mit einem Fulbright-Stipendium in die USA, wo er wieder mehr Zeit zum Klavierspielen findet und – nicht ohne Stolz – im „Black Music Ensemble“ des Jazzmusikers Richard Davis spielt. Er kehrt zurück an sein altes Institut in Wien, wo er die Diplomarbeit geschrieben hat, und habilitiert sich 1995 an der TU Wien. Wann Gerhard Widmer sich entschieden hat, Wissenschafter zu werden? Das hat sich ergeben: „Ich hatte mich nie bewusst für die Wissenschaft entschieden, und hatte dann als Wissenschafter nie beschlossen, etwas anderes zu tun“, reflektiert er.
Qualität statt Quantität
Seinen Erfolg führt Widmer auf seine Vielseitigkeit zurück: „Breite Bildung, breites Interesse und die Fähigkeit, verschiedene Dinge zu verknüpfen.“
„Man sollte sich auf Themen einlassen, die man für wichtig hält, auch wenn es am Anfang nicht Mainstream ist.“
Eigenschaften, die er auch an seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schätzt. „Man sollte sich auf Themen einlassen, die man für wichtig hält, auch wenn es am Anfang nicht Mainstream ist“, sieht er als eine wichtige Fähigkeit eines guten Wissenschafters. Was er auch immer seinem Team rät: „Man soll sich auf Qualität und nicht auf Quantität fokussieren. Was man publiziert, wird zur Visitenkarte“, sagt Widmer und führt aus: „Man hat eine internationale Reputation. Die Kolleginnen und Kollegen sehen genau, wer Qualität publiziert. Um solche Förderungen wie einen ERC Grant zu bekommen, muss man wirklich einen guten Ruf haben. Da reicht nicht die Menge an Papers.“
Alle Freiheiten den Mitarbeitern
Welche Eigenschaften ihm an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders wichtig sind: „Sie sollen kreativ sein und sich vor nichts fürchten, sich reinbeißen, auch wenn etwas zu schwierig scheint.“ Dafür lässt Widmer ihnen alle Freiheiten, ihren Ideen nachzugehen. So sieht er auch seine Rolle mehr als Mentor denn als Führenden. Besonders wichtig ist ihm beim Recruiting, dass die Bewerberinnen und Bewerber sozial in die Gruppe passen. „Meine Teams sind wie Familien. Wenn man nach Linz in unser Institut kommt, sieht man: alle Türen sind offen, überall stehen Leute zusammen und diskutieren“, beschreibt Widmer die Atmosphäre, auf die er viel Wert legt. „Wenn jeder in seinem Kämmerchen sitzen und sich nicht für die anderen interessieren würde, das wäre furchtbar!“ Aktuell sucht er gerade Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das ERC-Projekt. Eine nicht einfache Aufgabe, müssen die Bewerberinnen und Bewerber ausgesprochen interdisziplinär sein. „Leute, die einen ernsthaften Hintergrund in machine learning und deep learning, in Statistik und Informationstheorie haben – und in klassischer Musik“, nennt er die Anforderungen. Nicht leicht zu finden. Aber es gibt sie. Wie er selber beweist.
Gerhard Widmer ist Professor und Vorstand am Institut für Computational Perception der Johannes Kepler Universität Linz. Er ist Gründer und Leiter der Arbeitsgruppe für „Intelligent Music Processing and Machine Learning“ am Österreichischen Forschungsinstitut für Artificial Intelligence (OFAI) in Wien. Bis ins Teenageralter war er erfolgreicher Pianist, entschied sich dann aber für ein Studium der Informatik an der Technischen Universität Wien. Während eines Fulbright-Stipendiums in den USA ging er seiner Leidenschaft für Musik nach: er spielte im „Black Music Ensemble“ des Jazzers Richard Davis. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Auszeichnungen erhielt er 1998 den START-Preis, die Förderung des FWF für Nachwuchsforscher, 2009 die auch "Austro-Nobelpreis" genannte Auszeichnung, den Wittgenstein-Preis des FWF, und Anfang 2015 einen ERC Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats.
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