Jenseits der Norm

âIch schreibe, um hörbar zu machen, in Sprache zu ĂŒbersetzen, was gemeinhin nicht gesprochen wird, nicht sprechbar scheint.â Das sagt, das schreibt die deutsche Autorin Ulrike Draesner ĂŒber sich und ihre Arbeit. In einem ihrer Werke, in âMitgiftâ, setzt sie sich mit einem Thema auseinander, welches ânicht sprechbar scheintâ. â Mit Intergeschlechtlichkeit. âEine Familiengeschichteâ, erlĂ€utert Susanne Hochreiter im GesprĂ€ch mit scilog. âEine Familiengeschichte, die sich entlang von Abscheu und Faszination entwickelt.â Abscheu vor dem uneindeutigen Monster, nicht Mann, nicht Frau, welches die Eltern da in die Welt gesetzt haben. Faszination ob der puren Schönheit dieses Wesens. Und am Ende steht der Tod. Das sei ein hĂ€ufiger Topos, erklĂ€rt Hochreiter: âDie Beschreibung des Hermaphroditen als engelsgleiches Wesen, das dann doch nicht leben darf.â Dem dritten Geschlecht ist in der Literatur, zumal in der deutschsprachigen, kein GlĂŒck und kein gutes Leben beschieden. Insofern spiegelt die Literatur die RealitĂ€t. Denn, Personen, die mit anatomischen Geschlechtsmerkmalen beider Geschlechter geboren werden, werden zumeist noch im Kleinkindalter chirurgisch âvereindeutigtâ, fĂŒhrt Hochreiter aus, in eine âkorrekteâ MĂ€nnlichkeit oder Weiblichkeit. Sie werden passend gemacht.
Engel, Monster, Opfer-TĂ€ter
Mit UnterstĂŒtzung durch den Wissenschaftsfonds FWF untersuchte die Germanistin auf Initiative von und in Zusammenarbeit mit Institutskollegin Angelika Baier Darstellung, Umgang und Rezeption von Intergeschlechtlichkeit in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1990 und 2010. Das Projekt âDiskursverhandlungen in Literatur ĂŒber Hermaphroditismusâ wurde aufgrund der Tatsache, dass seit 2010 mehr Werke zum Thema publiziert werden, bis 2015 verlĂ€ngert. Verortet wird Intergeschlechtlichkeit im Rahmen fĂŒnf verschiedener Motiv- und Bildkomplexe: In (fiktionalen) autobiografisch orientierten Texten; in Texten im Familienrahmen; in Kriminalromanen; in Romanen, die Hermaphroditen als ĂŒbermenschliche Engel und in Texten, die Intergeschlechtlichkeit ĂŒber groteske Körperdarstellungen thematisieren. SelbstverstĂ€ndlich, meint die Germanistin, eignet sich diese Uneindeutigkeit optimal fĂŒr die Kriminalliteratur. âEs ist ein exotisches Motiv, es ist die Unentschiedenheit, die fasziniertâ, stellt Hochreiter fest. Womit die betroffenen Personen dann doch auch wieder in ein Eck gestellt werden. âWir haben keine soziale Funktion fĂŒr Menschen, die dazwischen stehenâ, konstatiert die Projektleiterin.
Wechselspiel der IdentitÀten
Nicht immer war der Umgang so unsicher. Nicht in der Literatur und, teilweise wenigstens, wohl auch nicht im Leben. Noch im Barock werden IdentitĂ€ten geradezu spielerisch getauscht. âIn Grimmelshausens ,Simplicius Simplicissimusâ wechselt der Protagonist schlicht die Kleidung und damit scheinbar das Geschlecht und amĂŒsiert sichâ, erinnert Hochreiter. Wie ĂŒberhaupt das Wechselspiel der IdentitĂ€ten in der Zeit vor dem Siegeszug des Rationalismus ein durchaus ĂŒbliches Spiel war. Nicht nur auf der BĂŒhne. Auch im Leben. âEs gab, das ist verbrieft, Frauen, die sich als Soldaten kleideten, die Soldaten wurden. So wie im Fall Rosenstengelâ, erzĂ€hlt Hochreiter. Aus dem Grund, als IdentitĂ€ten zu jener Zeit, vor der AufklĂ€rung, vor der französischen Revolution, vor der industriellen Revolution in gewisser Hinsicht lockerer verstanden werden. Zumindest ist das Changieren zwischen den sexuellen IdentitĂ€ten ein leichteres. Mit der normativen Festlegung auf nur zwei Geschlechter wird der Wechsel zwischen ihnen zur Travestie, zur Komödie, gar zur Clownerie. Was bleibt, ist die Unsicherheit mit den Zwischentönen. Zumal mit dem dritten Geschlecht. In der Literatur und im Leben.
Zu den Personen Susanne Hochreiter ist Literaturwissenschafterin an der UniversitĂ€t Wien mit den Schwerpunkten Gender und Queer Studies, österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Hochschuldidaktik und TheaterpĂ€dagogik. Hochreiter hat Germanistik, Philosophie, Psychologie und PĂ€dagogik (Lehramt) in Wien und Berlin studiert und ist u.a. Mitglied des Gender-Forschungsverbundes der UniversitĂ€t Wien. Angelika Baier ist Literaturwissenschafterin und Geschlechterforscherin. Sie hat Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften an den UniversitĂ€ten Salzburg, Wien und Santiago de Compostela studiert und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des FWF-Projektes âDiskursverhandlungen in Literatur ĂŒber Hermaphroditismusâ von 2011 bis 2016. Seit 2017 ist Baier Beraterin an der Volkshochschule Wien.
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