Barbara Seidlhofer ELF
Anglistin Barbara Seidlhofer (Mitte) plĂ€diert fĂŒr eine Trennung des Englischen als Muttersprache und Verkehrssprache. Mit ihrem Team verfolgt sie damit einen neuen Forschungsansatz. Team: Stefan Majewski, Marie-Luise Pitzl, Angelika Jezek-Breiteneder und Ruth Osmik-Teasdale (v.l.) © Seidlhofer

Jeder kennt das: Beim Erlernen einer Fremdsprache ist das höchste Ziel, sie so authentisch wie möglich sprechen zu können, den Muttersprachlern nachzueifern. Auch Barbara Seidlhofer hatte diesen Anspruch. WĂ€hrend des Anglistikstudiums an der UniversitĂ€t Wien verbringt sie ein Jahr in London. Sie unterrichtet dort in zwei Mittelschulen Deutsch. WĂ€hrend ihres Aufenthaltes erhĂ€lt sie einen GesprĂ€chstermin bei Lord Randolph Quirk, Professor am University College London. „Ich war sehr aufgeregt“, erzĂ€hlt die Professorin fĂŒr Englische Sprache und Literatur die prĂ€gende Anekdote. Schließlich gilt der honorige Professor als Papst der englischen Grammatik. „Ich habe mich schön angezogen und im Geiste geĂŒbt, was ich sagen werde. Professor Quirk saß ganz hinten in einem großen Zimmer. Wie ich auf ihn zugehe, reden wir schon miteinander. Und dann fragt mich der Professor erstaunt, warum ich einen so deutsch klingenden Namen trage. TatsĂ€chlich: fĂŒr wenige Momente hielt er mich fĂŒr einen Native Speaker! Das war damals mein grĂ¶ĂŸter Triumph!“

Der Native Speaker als „instructor“

Das höchste Ziel ist gewissermaßen erreicht. Doch die fĂŒr ihre Karriere und Entwicklung relevantere Erfahrung macht die Wienerin beim Deutsch-Unterrichten: Sie muss plötzlich Dinge erklĂ€ren, die sie sich selber nie ĂŒberlegt hatte. Und spĂŒrt hier zum ersten Mal jene Thematik, die sie ihr weiteres Leben begleiten und schließlich eine ganz neue Forschungsschiene auslösen wird: die Diskrepanz, wie man sich einerseits als Sprecherin der eigenen Muttersprache und andererseits als Unterrichtende einer Fremdsprache fĂŒhlt. „Als Lehrerin oder Lehrer“, erklĂ€rt die Wissenschafterin, „ist man immer ‚informant‘ und ‚instructor‘ zugleich.“ Als „informant“ gibt man Auskunft ĂŒber die Sprache, als „instructor“ kann man den Inhalt aufbereiten, damit er lernbar wird. „Da haben Lehrende, welche die Sprache selber lernen mussten, einen Mehrwert. Native Speaker sind meist gute Informanten, was interessant sein kann fĂŒr höhere Klassen oder fĂŒr die ganz Kleinen. DafĂŒr können sie aber sehr oft nichts erklĂ€ren“, erlĂ€utert Seidlhofer.

Kochen und lĂ€cheln fĂŒr Österreich

Diese Diskrepanz erfĂ€hrt sie wenige Jahre spĂ€ter wieder, als sie in die englische Hauptstadt zurĂŒckkehrt. Diesmal aber als „diplomatic wife“ mit ihrem damaligen Mann, der als Physiker zum Diplomaten geworden war. „Ich habe fĂŒr Österreich gekocht und gelĂ€chelt“, fasst die Forscherin mit ausgeprĂ€gtem Sinn fĂŒr Humor diese Lebensphase zusammen. Zugleich möchte sie aber auch ihre Dissertation beginnen. Und macht wie viele andere ausgebildete Englischlehrer, mit denen sie in London im Austausch ist, immer wieder die gleiche Erfahrung: Sie können noch so viel ĂŒber die Sprache wissen, sie hören: „We employ native speakers only.“

In die Höhle des Löwen

Schließlich bilden die „Diskriminierten“ eine Gruppe und fĂŒhren bei einem Symposium in New York eine Diskussion zum Thema „Whose language is it anyway?“. „Damit sind wir direkt in die Höhle des Löwen gegangen. Niemand schien nachgedacht zu haben. Es war fest in allen Köpfen verankert: Der legitime

„Und dann kommt jemand wie ich und meint, das braucht es ja gar nicht.“ Barbara Seidlhofer

Sprecher ist der Native Speaker.“ Das ĂŒberhaupt in Frage zu stellen, damit stĂ¶ĂŸt sie viele Leute vor den Kopf: „Die englischsprachigen Lehrer, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Die Linguisten, die gewöhnt sind, ihre Native Speaker zu erforschen, und auch die Non-Native-Speaker, die ihr ganzes Leben lang viel MĂŒhe investieren, diese Sprache, die sie unterrichten, möglichst gut zu lernen – manchmal mit vielen Opfern und unter GefĂ€hrdung der eigenen IdentitĂ€tsperzeption bis zur Selbstaufgabe. Und dann kommt jemand wie ich und meint, das braucht es ja gar nicht“, schildert sie die „Höhle des Löwen“. Der Anstoß wird auch von der wissenschaftlichen Kollegenschaft aufgenommen und es wird zum Thema publiziert: ein wichtiges SchlĂŒsselerlebnis fĂŒr die junge Wissenschafterin. Sie produziert einige Artikel und VortrĂ€ge zu Englisch als Lingua Franca (ELF) und ab Mitte der 1990er Jahre wird dieses Thema zum „hot topic“.

Welche ist meine Sprache?

„SpĂ€testens ab den frĂŒhen 1990er Jahren“, erklĂ€rt die Anglistin, „hat man in der Deskription der Sprache nicht mehr ohne Corpus arbeiten können. Niemand hat einem zugehört, hat man das Thema nicht an einem Corpus erforscht.“ Bei solchen Corpora handelt es sich um die Dokumentation authentischer Sprachdaten, die als Rohmaterial fĂŒr die linguistische Forschung dienen. Auch Seidlhofer interessiert sich fĂŒr diese neue Methode. Allerdings möchte sie nicht das muttersprachliche Englisch erforschen. „Das haben schon so viele gemacht, da wollte ich nicht auch noch mitlaufen“, erzĂ€hlt sie. Also stellt sie sich die Frage: „Welche ist meine Sprache? Welche ist die Sprache, die ich als österreichische Anglistin beforschen will?“ Und hat dazu eine ganz neue Idee: Sie verknĂŒpft den damals vieldiskutierten Vorgang der Globalisierung mit der Linguistik. Die sprachlichen Konsequenzen der globalen Verbreitung des Englischen waren bis dahin kaum beforscht. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Tatsache, dass die weltweit grĂ¶ĂŸte Gruppe von Benutzerinnen und Benutzern des Englischen aus Menschen besteht, die diese Sprache als Kommunikationsmittel unter Sprecherinnen und Sprechern verschiedener Muttersprachen zusammensetzt. Sie verwenden Englisch als Lingua Franca. Und diese Verkehrssprache will Seidlhofer mit Hilfe eines zu erstellenden Corpus erforschen: Wie sprechen diese vielen Nicht-Native-Speaker, die in der Mehrzahl sind? Wie gehen Leute mit einer Sprache um, auf die sie sich geeinigt haben, die aber nicht ihre Muttersprache ist? Wie kommunizieren sie? Was ist fĂŒr ihre erfolgreiche Kommunikation wichtig?

Corpus fĂŒr Englisch als Lingua Franca

Auf einer großen Konferenz europĂ€ischer Anglistinnen und Anglisten in Helsinki im Jahr 2000 stellt sie zum ersten Mal ihre Idee vor, ein Corpus fĂŒr Englisch als

„Im Zuge der Globalisierung mĂŒssen wir die bisherige Vorstellung von einer Community hinterfragen.“ Barbara Seidlhofer

Lingua Franca erarbeiten zu wollen. Die Reaktionen reichen von Begeisterung bis Entsetzen. „Von‚Fantastisch, das ist genau das, was wir brauchen!‘ bis ‚Das ist doch Wahnsinn! Wie ein Corpus von etwas bauen, das gar keine Sprache ist!‘“, erzĂ€hlt sie und prĂ€zisiert: „Im Zuge der Globalisierung mĂŒssen wir die bisherige Vorstellung von einer Community hinterfragen. Die traditionelle Linguistik basiert auf Sprachgebrauch im face-to-face- Kontakt, der Begriff der Community ist also ein örtlicher. Mittlerweile dominieren aber die virtuellen Communities, wir kommunizieren mehr ĂŒber Mail, Skype oder Handy.“

„VOICE“ – der wissenschaftliche Durchbruch

2004 stellt Seidlhofer beim FWF einen Antrag auf ein Translational-Research-Projekt. Und freut sich „wahnsinnig“ ĂŒber die Bewilligung, kann sie doch mit Hilfe dieser Förderung 2005 an der Arbeit am Corpus beginnen. „Der FWF hat mir damit den wissenschaftlichen Durchbruch ermöglicht“, ist sie sich sicher. Spontane, mĂŒndliche ELF-Interaktionen im privaten und öffentlichen Bereich wurden genau transkribiert. Es sind z. B. Konversationen, Gruppendiskussionen und Interviews. Insgesamt 150 Sprechereignisse, 1.300 Sprecherinnen und Sprecher auf 120 Stunden Tonaufnahmen. Um diese Art von Daten aufzubereiten, musste eine eigene Methode der Bearbeitung und Darstellung von ELF- Daten sowie spezielle Software entwickelt werden. Das resultierende Corpus heißt VOICE („Vienna-Oxford International Corpus of English“) und hat eine GrĂ¶ĂŸe von einer Million Wörtern.

„Th“ fĂŒr die VerstĂ€ndigung wurscht

WĂŒrde man die Ergebnisse dieser Forschung im Englischunterricht berĂŒcksichtigen, mĂŒsste man die LehrplĂ€ne reformieren, die PrioritĂ€ten ĂŒberdenken. „FĂŒr eine erfolgreiche Kommunikation sind viele sprachliche Formen nicht wesentlich. Man mĂŒsste eher Kommunikationsstrategien unterrichten. Wie merke ich, ob

„Das „th“ oder das 3.-Person-„s“ sind fĂŒr die internationale VerstĂ€ndigung meist völlig wurscht.“ Barbara Seidlhofer

mich die andere Person versteht? Wie gebe ich Feedback oder paraphrasiere ich? Das ist schwieriger zu unterrichten“, erklĂ€rt Seidlhofer und setzt fort: „Es gibt Studien, die zeigen, dass fĂŒr 80 Prozent der VerstĂ€ndigungsprobleme im internationalen Kontext die Aussprache verantwortlich ist, aber nicht alle Elemente sind gleich wichtig.“ Laut der Anglistikprofessorin am allerwenigsten das, was man in LehrbĂŒchern ganz oben findet: „Das „th“ oder das 3.-Person-„s“ sind fĂŒr die internationale VerstĂ€ndigung meist völlig wurscht“, sagt sie. Generationen von Englischlernenden erinnern sich an stundenlanges „th“-Üben vor dem Spiegel. Und es werden noch weitere Generationen folgen, lauscht man Seidlhofers Erfahrungen: „Wir entlassen Absolventinnen und Absolventen ins Unterrichtspraktikum, die mit ihrer universitĂ€ren Ausbildung als denkende Individuen Schwerpunkte setzen könnten. Dort treffen sie oft auf die ‚Alte Schule‘ und werden ‚zurechtgestutzt‘. Es geht im Allgemeinen nach wie vor darum, richtige Formen zu produzieren“, schildert sie plastisch. Bewegung in dieser Reformierung sieht sie eine Generation vorausschauend und attestiert „einen langen Atem“. Gerade deshalb hĂ€lt Seidlhofer die universitĂ€re Ausbildung fĂŒr Lehrende so wichtig, „weil es um kritisches Überdenken geht, und nicht darum, den Leuten Rezepte zu geben, wie sie es machen sollen“.

Globales Englisch wie der FĂŒhrerschein

Dass Englisch in der EU nach wie vor gleich behandelt wird wie andere Fremdsprachen, hĂ€lt sie fĂŒr einen Anachronismus und wĂŒnscht sich, dass die globale Sprache aus dieser Hierarchie herausgenommen wird. „Es ist immer noch in den Köpfen: entweder etwas ist eine Muttersprache oder eine Fremdsprache. Aber daneben gibt es Englisch als Lingua Franca, fĂŒr viele ein Soft Skill wie der FĂŒhrerschein oder Computerkenntnisse“, plĂ€diert sie fĂŒr eine Trennung des Englischen als Muttersprache und Verkehrssprache. Dabei geht es ihr nicht darum, den Lernenden kein gutes Englisch beizubringen, sie habe nur „Beweismaterial“, dass es im internationalen Kontext auch anders geht. „Wir möchten nicht das eine durch das andere ersetzen, wir bespielen eine neue Schiene“, erklĂ€rt sie.

„Ich bin Mangelverwalterin“

In der ELF- Forschung ist Barbara Seidlhofer nicht nur grĂŒndend, sondern – neben den UniversitĂ€ten Southampton und Helsinki – weltweit fĂŒhrend. „Wien

„Wien könnte der weltweit allererste Anlaufplatz in der Englisch-als-Lingua Franca-Forschung sein.“ Barbara Seidlhofer

könnte der weltweit erste Anlaufplatz auf diesem Feld sein“, sagt sie, um bitter festzustellen: „Wenn wir Zeit hĂ€tten und nicht hauptsĂ€chlich Mangel verwalten mĂŒssten.“ Davon hat sie als InstitutsvorstĂ€ndin ein Lied zu singen: „Die Uni Wien ist die Ă€rmste österreichische UniversitĂ€t. Ich bin vor allem mit Mangelverwaltung beschĂ€ftigt: eingefrorene Budgets trotz steigender Studierendenzahlen, Personalmangel, strukturelle Probleme.“ Auch Zeit fĂŒr die Forschung bleibt ihr nur noch am Wochenende. Es ist völlig unrealistisch, Forschung, Lehre und Verwaltung im UniversitĂ€tsalltag unterzubringen.“ Noch seien sie eines der besten Anglistikinstitute weltweit. Aber irgendwann beginne es zu bröckeln. „In zehn, fĂŒnfzehn Jahren wird man merken, was alles an Substanz jetzt abgegraben wird“, warnt Seidlhofer und wĂŒnscht sich kreative Lösungen. „Wir können dem etwas entgegensetzen, wir mĂŒssen uns dem Thema nur wirklich stellen“, ist sie sich sicher.


Barbara Seidlhofer ist Professorin fĂŒr englische Sprachwissenschaft und VorstĂ€ndin des Instituts fĂŒr Anglistik und Amerikanistik der UniversitĂ€t Wien. Sie studierte Anglistik, Romanistik und Slawistik in Wien und verbrachte Studien- und Lehrjahre in Großbritannien. Seidlhofer begrĂŒndete an der UniversitĂ€t Wien die Forschungsrichtung Englisch als Lingua Franca (ELF), in der sie neben den UniversitĂ€ten Southampton und Helsinki weltweit fĂŒhrend ist. Im Rahmen zweier vom FWF geförderter Translational-Research-Projekte baute sie von 2005 bis 2013 das Corpus VOICE auf (The Vienna-Oxford International Corpus of English), auf das weltweit zugegriffen werden kann unter www.univie.ac.at/voice.