âWhose language is it anyway?â

Jeder kennt das: Beim Erlernen einer Fremdsprache ist das höchste Ziel, sie so authentisch wie möglich sprechen zu können, den Muttersprachlern nachzueifern. Auch Barbara Seidlhofer hatte diesen Anspruch. WĂ€hrend des Anglistikstudiums an der UniversitĂ€t Wien verbringt sie ein Jahr in London. Sie unterrichtet dort in zwei Mittelschulen Deutsch. WĂ€hrend ihres Aufenthaltes erhĂ€lt sie einen GesprĂ€chstermin bei Lord Randolph Quirk, Professor am University College London. âIch war sehr aufgeregtâ, erzĂ€hlt die Professorin fĂŒr Englische Sprache und Literatur die prĂ€gende Anekdote. SchlieĂlich gilt der honorige Professor als Papst der englischen Grammatik. âIch habe mich schön angezogen und im Geiste geĂŒbt, was ich sagen werde. Professor Quirk saĂ ganz hinten in einem groĂen Zimmer. Wie ich auf ihn zugehe, reden wir schon miteinander. Und dann fragt mich der Professor erstaunt, warum ich einen so deutsch klingenden Namen trage. TatsĂ€chlich: fĂŒr wenige Momente hielt er mich fĂŒr einen Native Speaker! Das war damals mein gröĂter Triumph!â
Der Native Speaker als âinstructorâ
Das höchste Ziel ist gewissermaĂen erreicht. Doch die fĂŒr ihre Karriere und Entwicklung relevantere Erfahrung macht die Wienerin beim Deutsch-Unterrichten: Sie muss plötzlich Dinge erklĂ€ren, die sie sich selber nie ĂŒberlegt hatte. Und spĂŒrt hier zum ersten Mal jene Thematik, die sie ihr weiteres Leben begleiten und schlieĂlich eine ganz neue Forschungsschiene auslösen wird: die Diskrepanz, wie man sich einerseits als Sprecherin der eigenen Muttersprache und andererseits als Unterrichtende einer Fremdsprache fĂŒhlt. âAls Lehrerin oder Lehrerâ, erklĂ€rt die Wissenschafterin, âist man immer âinformantâ und âinstructorâ zugleich.â Als âinformantâ gibt man Auskunft ĂŒber die Sprache, als âinstructorâ kann man den Inhalt aufbereiten, damit er lernbar wird. âDa haben Lehrende, welche die Sprache selber lernen mussten, einen Mehrwert. Native Speaker sind meist gute Informanten, was interessant sein kann fĂŒr höhere Klassen oder fĂŒr die ganz Kleinen. DafĂŒr können sie aber sehr oft nichts erklĂ€renâ, erlĂ€utert Seidlhofer.
Kochen und lĂ€cheln fĂŒr Ăsterreich
Diese Diskrepanz erfĂ€hrt sie wenige Jahre spĂ€ter wieder, als sie in die englische Hauptstadt zurĂŒckkehrt. Diesmal aber als âdiplomatic wifeâ mit ihrem damaligen Mann, der als Physiker zum Diplomaten geworden war. âIch habe fĂŒr Ăsterreich gekocht und gelĂ€cheltâ, fasst die Forscherin mit ausgeprĂ€gtem Sinn fĂŒr Humor diese Lebensphase zusammen. Zugleich möchte sie aber auch ihre Dissertation beginnen. Und macht wie viele andere ausgebildete Englischlehrer, mit denen sie in London im Austausch ist, immer wieder die gleiche Erfahrung: Sie können noch so viel ĂŒber die Sprache wissen, sie hören: âWe employ native speakers only.â
In die Höhle des Löwen
SchlieĂlich bilden die âDiskriminiertenâ eine Gruppe und fĂŒhren bei einem Symposium in New York eine Diskussion zum Thema âWhose language is it anyway?â. âDamit sind wir direkt in die Höhle des Löwen gegangen. Niemand schien nachgedacht zu haben. Es war fest in allen Köpfen verankert: Der legitime
âUnd dann kommt jemand wie ich und meint, das braucht es ja gar nicht.â
Sprecher ist der Native Speaker.â Das ĂŒberhaupt in Frage zu stellen, damit stöĂt sie viele Leute vor den Kopf: âDie englischsprachigen Lehrer, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Die Linguisten, die gewöhnt sind, ihre Native Speaker zu erforschen, und auch die Non-Native-Speaker, die ihr ganzes Leben lang viel MĂŒhe investieren, diese Sprache, die sie unterrichten, möglichst gut zu lernen â manchmal mit vielen Opfern und unter GefĂ€hrdung der eigenen IdentitĂ€tsperzeption bis zur Selbstaufgabe. Und dann kommt jemand wie ich und meint, das braucht es ja gar nichtâ, schildert sie die âHöhle des Löwenâ. Der AnstoĂ wird auch von der wissenschaftlichen Kollegenschaft aufgenommen und es wird zum Thema publiziert: ein wichtiges SchlĂŒsselerlebnis fĂŒr die junge Wissenschafterin. Sie produziert einige Artikel und VortrĂ€ge zu Englisch als Lingua Franca (ELF) und ab Mitte der 1990er Jahre wird dieses Thema zum âhot topicâ.
Welche ist meine Sprache?
âSpĂ€testens ab den frĂŒhen 1990er Jahrenâ, erklĂ€rt die Anglistin, âhat man in der Deskription der Sprache nicht mehr ohne Corpus arbeiten können. Niemand hat einem zugehört, hat man das Thema nicht an einem Corpus erforscht.â Bei solchen Corpora handelt es sich um die Dokumentation authentischer Sprachdaten, die als Rohmaterial fĂŒr die linguistische Forschung dienen. Auch Seidlhofer interessiert sich fĂŒr diese neue Methode. Allerdings möchte sie nicht das muttersprachliche Englisch erforschen. âDas haben schon so viele gemacht, da wollte ich nicht auch noch mitlaufenâ, erzĂ€hlt sie. Also stellt sie sich die Frage: âWelche ist meine Sprache? Welche ist die Sprache, die ich als österreichische Anglistin beforschen will?â Und hat dazu eine ganz neue Idee: Sie verknĂŒpft den damals vieldiskutierten Vorgang der Globalisierung mit der Linguistik. Die sprachlichen Konsequenzen der globalen Verbreitung des Englischen waren bis dahin kaum beforscht. Ausgangspunkt der Ăberlegungen ist die Tatsache, dass die weltweit gröĂte Gruppe von Benutzerinnen und Benutzern des Englischen aus Menschen besteht, die diese Sprache als Kommunikationsmittel unter Sprecherinnen und Sprechern verschiedener Muttersprachen zusammensetzt. Sie verwenden Englisch als Lingua Franca. Und diese Verkehrssprache will Seidlhofer mit Hilfe eines zu erstellenden Corpus erforschen: Wie sprechen diese vielen Nicht-Native-Speaker, die in der Mehrzahl sind? Wie gehen Leute mit einer Sprache um, auf die sie sich geeinigt haben, die aber nicht ihre Muttersprache ist? Wie kommunizieren sie? Was ist fĂŒr ihre erfolgreiche Kommunikation wichtig?
Corpus fĂŒr Englisch als Lingua Franca
Auf einer groĂen Konferenz europĂ€ischer Anglistinnen und Anglisten in Helsinki im Jahr 2000 stellt sie zum ersten Mal ihre Idee vor, ein Corpus fĂŒr Englisch als
âIm Zuge der Globalisierung mĂŒssen wir die bisherige Vorstellung von einer Community hinterfragen.â
Lingua Franca erarbeiten zu wollen. Die Reaktionen reichen von Begeisterung bis Entsetzen. âVonâFantastisch, das ist genau das, was wir brauchen!â bis âDas ist doch Wahnsinn! Wie ein Corpus von etwas bauen, das gar keine Sprache ist!ââ, erzĂ€hlt sie und prĂ€zisiert: âIm Zuge der Globalisierung mĂŒssen wir die bisherige Vorstellung von einer Community hinterfragen. Die traditionelle Linguistik basiert auf Sprachgebrauch im face-to-face- Kontakt, der Begriff der Community ist also ein örtlicher. Mittlerweile dominieren aber die virtuellen Communities, wir kommunizieren mehr ĂŒber Mail, Skype oder Handy.â
âVOICEâ â der wissenschaftliche Durchbruch
2004 stellt Seidlhofer beim FWF einen Antrag auf ein Translational-Research-Projekt. Und freut sich âwahnsinnigâ ĂŒber die Bewilligung, kann sie doch mit Hilfe dieser Förderung 2005 an der Arbeit am Corpus beginnen. âDer FWF hat mir damit den wissenschaftlichen Durchbruch ermöglichtâ, ist sie sich sicher. Spontane, mĂŒndliche ELF-Interaktionen im privaten und öffentlichen Bereich wurden genau transkribiert. Es sind z. B. Konversationen, Gruppendiskussionen und Interviews. Insgesamt 150 Sprechereignisse, 1.300 Sprecherinnen und Sprecher auf 120 Stunden Tonaufnahmen. Um diese Art von Daten aufzubereiten, musste eine eigene Methode der Bearbeitung und Darstellung von ELF- Daten sowie spezielle Software entwickelt werden. Das resultierende Corpus heiĂt VOICE (âVienna-Oxford International Corpus of Englishâ) und hat eine GröĂe von einer Million Wörtern.
âThâ fĂŒr die VerstĂ€ndigung wurscht
WĂŒrde man die Ergebnisse dieser Forschung im Englischunterricht berĂŒcksichtigen, mĂŒsste man die LehrplĂ€ne reformieren, die PrioritĂ€ten ĂŒberdenken. âFĂŒr eine erfolgreiche Kommunikation sind viele sprachliche Formen nicht wesentlich. Man mĂŒsste eher Kommunikationsstrategien unterrichten. Wie merke ich, ob
âDas âthâ oder das 3.-Person-âsâ sind fĂŒr die internationale VerstĂ€ndigung meist völlig wurscht.â
mich die andere Person versteht? Wie gebe ich Feedback oder paraphrasiere ich? Das ist schwieriger zu unterrichtenâ, erklĂ€rt Seidlhofer und setzt fort: âEs gibt Studien, die zeigen, dass fĂŒr 80 Prozent der VerstĂ€ndigungsprobleme im internationalen Kontext die Aussprache verantwortlich ist, aber nicht alle Elemente sind gleich wichtig.â Laut der Anglistikprofessorin am allerwenigsten das, was man in LehrbĂŒchern ganz oben findet: âDas âthâ oder das 3.-Person-âsâ sind fĂŒr die internationale VerstĂ€ndigung meist völlig wurschtâ, sagt sie. Generationen von Englischlernenden erinnern sich an stundenlanges âthâ-Ăben vor dem Spiegel. Und es werden noch weitere Generationen folgen, lauscht man Seidlhofers Erfahrungen: âWir entlassen Absolventinnen und Absolventen ins Unterrichtspraktikum, die mit ihrer universitĂ€ren Ausbildung als denkende Individuen Schwerpunkte setzen könnten. Dort treffen sie oft auf die âAlte Schuleâ und werden âzurechtgestutztâ. Es geht im Allgemeinen nach wie vor darum, richtige Formen zu produzierenâ, schildert sie plastisch. Bewegung in dieser Reformierung sieht sie eine Generation vorausschauend und attestiert âeinen langen Atemâ. Gerade deshalb hĂ€lt Seidlhofer die universitĂ€re Ausbildung fĂŒr Lehrende so wichtig, âweil es um kritisches Ăberdenken geht, und nicht darum, den Leuten Rezepte zu geben, wie sie es machen sollenâ.
Globales Englisch wie der FĂŒhrerschein
Dass Englisch in der EU nach wie vor gleich behandelt wird wie andere Fremdsprachen, hĂ€lt sie fĂŒr einen Anachronismus und wĂŒnscht sich, dass die globale Sprache aus dieser Hierarchie herausgenommen wird. âEs ist immer noch in den Köpfen: entweder etwas ist eine Muttersprache oder eine Fremdsprache. Aber daneben gibt es Englisch als Lingua Franca, fĂŒr viele ein Soft Skill wie der FĂŒhrerschein oder Computerkenntnisseâ, plĂ€diert sie fĂŒr eine Trennung des Englischen als Muttersprache und Verkehrssprache. Dabei geht es ihr nicht darum, den Lernenden kein gutes Englisch beizubringen, sie habe nur âBeweismaterialâ, dass es im internationalen Kontext auch anders geht. âWir möchten nicht das eine durch das andere ersetzen, wir bespielen eine neue Schieneâ, erklĂ€rt sie.
âIch bin Mangelverwalterinâ
In der ELF- Forschung ist Barbara Seidlhofer nicht nur grĂŒndend, sondern â neben den UniversitĂ€ten Southampton und Helsinki â weltweit fĂŒhrend. âWien
âWien könnte der weltweit allererste Anlaufplatz in der Englisch-als-Lingua Franca-Forschung sein.â
könnte der weltweit erste Anlaufplatz auf diesem Feld seinâ, sagt sie, um bitter festzustellen: âWenn wir Zeit hĂ€tten und nicht hauptsĂ€chlich Mangel verwalten mĂŒssten.â Davon hat sie als InstitutsvorstĂ€ndin ein Lied zu singen: âDie Uni Wien ist die Ă€rmste österreichische UniversitĂ€t. Ich bin vor allem mit Mangelverwaltung beschĂ€ftigt: eingefrorene Budgets trotz steigender Studierendenzahlen, Personalmangel, strukturelle Probleme.â Auch Zeit fĂŒr die Forschung bleibt ihr nur noch am Wochenende. Es ist völlig unrealistisch, Forschung, Lehre und Verwaltung im UniversitĂ€tsalltag unterzubringen.â Noch seien sie eines der besten Anglistikinstitute weltweit. Aber irgendwann beginne es zu bröckeln. âIn zehn, fĂŒnfzehn Jahren wird man merken, was alles an Substanz jetzt abgegraben wirdâ, warnt Seidlhofer und wĂŒnscht sich kreative Lösungen. âWir können dem etwas entgegensetzen, wir mĂŒssen uns dem Thema nur wirklich stellenâ, ist sie sich sicher.
Barbara Seidlhofer ist Professorin fĂŒr englische Sprachwissenschaft und VorstĂ€ndin des Instituts fĂŒr Anglistik und Amerikanistik der UniversitĂ€t Wien. Sie studierte Anglistik, Romanistik und Slawistik in Wien und verbrachte Studien- und Lehrjahre in GroĂbritannien. Seidlhofer begrĂŒndete an der UniversitĂ€t Wien die Forschungsrichtung Englisch als Lingua Franca (ELF), in der sie neben den UniversitĂ€ten Southampton und Helsinki weltweit fĂŒhrend ist. Im Rahmen zweier vom FWF geförderter Translational-Research-Projekte baute sie von 2005 bis 2013 das Corpus VOICE auf (The Vienna-Oxford International Corpus of English), auf das weltweit zugegriffen werden kann unter www.univie.ac.at/voice.