Ăber dem Tellerrand

âBegonnen hat alles damit, dass ich starke Bauchschmerzen bekam ⊠Ich ging zum Arzt, der konnte aber nichts finden. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein. Ich wusste nicht, was passiert war, und verharrte mehr oder weniger einen ganzen Tag lang in diesem Zustand. Tanzend, singend und irgendwelche Sachen machend. Aber ich selbst wusste nicht, was geschah, was ich tat.â
Medizinanthropologie
Seit zehn Jahren erforscht die Medizinanthropologin Yvonne Schaffler das PhĂ€nomen der rituellen Besessenheit im SĂŒdwesten der Dominikanischen Republik â unter anderem im Rahmen eines vom FWF geförderten Hertha-Firnberg-Projekts mit dem Titel âGeistesbesessenheit: Modi und Funktionâ, das sie an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien durchfĂŒhrte. Mehr als hundert Stunden Videomaterial und zahlreiche Interviews hat sie aufgenommen, darunter ĂŒber 20 detailliert recherchierte Lebensgeschichten. Aus diesen Aufnahmen stammt das Zitat zu Beginn: Eine Frau aus der Dominikanischen Republik schildert ihre erste Erfahrung mit Geisterwesen im Kontext der Vodou-Religion. âMedizinanthropologie â frĂŒher Ethnomedizin genannt â beschĂ€ftigt sich mit den unterschiedlichen Definitionen von Gesundheit und Krankheit in verschiedenen Kulturen und den daraus resultierenden kulturspezifischen Heil- und Behandlungsweisenâ, erklĂ€rt Schaffler. Neben der Erfassung medizinischer Praktiken in vielen LĂ€ndern der Welt sind kulturĂŒbergreifende und -vergleichende Studien Ziele dieser Wissenschaftsdisziplin. Ergebnisse der medizinanthropologischen Forschung finden ihre Anwendung zum Beispiel im Umgang mit Patienten aus anderen Kulturen oder bei der DurchfĂŒhrung von medizinischen Projekten in EntwicklungslĂ€ndern. Ebenso kann die Medizinanthropologie auch als Hintergrund zur Reflexion des eigenen MedizinverstĂ€ndnisses dienen. Bereits im Zuge der Diplomarbeit beschĂ€ftigte sich Schaffler mit den Themen Besessenheit und Heilung. Ihr Interesse fĂŒr diese Wissenschaft begann mit einer Exkursion im Rahmen ihres Ethnologiestudiums: Sie ging damals in Bolivien der Frage nach, inwieweit europĂ€ische Gesundheitsarbeiterinnen ĂŒber lokale Krankheitskonzepte Bescheid wissen. âSo begann ich mich fĂŒr andere Medizinsysteme zu interessierenâ, erinnert sie sich.
Besessenheit im rituellen Kontext
âIm medizinisch-diagnostischen Manual (ICD)â, erklĂ€rt die Wissenschafterin, âgibt es im Spektrum der dissoziativen Störungen eine Diagnose, die als âTrance- und BesessenheitszustĂ€ndeâ bezeichnet wird. Sie ist folgendermaĂen definiert: Besessenheit wird als ânormalâ eingestuft, wenn sie in einem rituellen Kontext,
âMit den sozialen Problemen hat auch das PhĂ€nomen der Besessenheit zugenommen. Immer mehr Junge praktizieren Vodou.â
und eingebettet in eine entsprechende Kultur stattfindet. AuĂerhalb dieses Kontextes gilt sie als ein zu behandelndes Krankheitsbild. Der rituelle Kontext in der Dominikanischen Republik ist eine Form von âVodouâ (haitianische Schreibweise) beziehungsweise â21 Divisionesâ, wie die Religion vor Ort bezeichnet wird. âAls ich begonnen habe, gab es wenige Forscher, die sich mit Vodou in der Dominikanischen Republik beschĂ€ftigt habenâ, erzĂ€hlt die Wissenschafterin. Heute wachsen die StĂ€dte rasend schnell, die sozialen Probleme ebenso. So wie etwa in San CristĂłbal, eine kleine, der Hauptstadt Santo Domingo vorgelagerte Stadt. Hier hat Schaffler die meiste Zeit gearbeitet. âMit den sozialen Problemen hat auch das PhĂ€nomen der Besessenheit zugenommen. Immer mehr junge Menschen praktizieren Vodou. Jetzt interessieren sich auch mehr Forscher dafĂŒrâ, so Schaffler.
EuropÀischer Hexenglauben
Der Staat auf der Insel Hispaniola gilt offiziell â ebenso wie Haiti, aus dem Vodou vor allem bekannt ist â als katholisches Land. âBetritt man einen Vodou-Altar, hat man in der Tat im ersten Moment den Eindruck, man betritt eine katholische Kapelle. Alles ist voller Heiligenbilder. Ein groĂer Teil der Geister hat ein katholisches Pendantâ, sagt Schaffler. UrsprĂŒnglich kam Vodou ĂŒber afrikanische Sklaven in den karibischen Raum. Zur Zeit des Sklavenhandels waren die EuropĂ€er selber stark im Hexenglauben. Vodou war â und ist â vor allem deshalb so furchterregend, weil sich die EuropĂ€er selber vor Geister, Hexen und Besessenheit Ă€ngstigten. Zudem bereiteten sich die damaligen Sklaven im Rahmen aufgeheizter Vodou-Zeremonien auf die AufstĂ€nde vor. Damit wurde zusĂ€tzlich Angst unter den WeiĂen verbreitet. Heute ĂŒbernimmt diese Rolle die amerikanische Filmindustrie. Der Begriff Vodou verleitet sehr zu glauben, dass es sich um eine Religion mit feststehenden AblĂ€ufen und einheitlichen Regeln handelt. TatsĂ€chlich gibt es aber einen Kanon wie in der katholischen Kirche. Vodou wird als Oraltradition ĂŒber einzelne Personen bzw. Zentren weitergegeben. Zudem ist die Oraltradition in jeder Region eine andere: An jedem Ort werden bestimmte Geister favorisiert. âEs gibt Geister, die sich gut fĂŒr Heilzwecke eignen, es gibt solche, die zornig sind, die man fĂŒr kriegerische Zwecke oder Rache oder fĂŒr ein sehr groĂes Problem brauchtâ, schildert die Forscherin.
Geister als Teil der Familie
âIm Vodou- Glaubenâ, so Schaffler, âleben die Menschen mit den Geistern, als wĂ€ren sie ein Teil der Familie. Es gibt keine Trennung zwischen Alltag und Religion. Man geht dann pilgern, wenn man meint, dass die Geister es von einem fordern. Man interpretiert die TrĂ€ume so, als wĂ€ren sie Botschaften der Geister. Wird jemand krank, steht manchmal die Frage im Raum: Was hat die Person versĂ€umt, hat sie den Geistern zu wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen? Wer mit den Geistern gut auskommen will, kĂŒmmert sich um sie. Das kann bedeuten, dass man zum Beispiel den ersten Kaffee, den man morgens gebraut hat, nicht selber trinkt, sondern fĂŒr die Geister auf den Altar stellt.â Bemerkenswert ist, dass Besessenheit durch Geisterwesen â in der Landessprache als âmisteriosâ bezeichnet â grundsĂ€tzlich positiv bewertet wird. Von Geistbesessenheit betroffene Personen werden sogar als privilegiert angesehen, da ja gerade sie von den Geisterwesen auserwĂ€hlt wurden.
Vodou â spirituelles und soziales Netzwerk
FrĂŒhe Besessenheiten können allerdings auch mit Leidensdruck verbunden sein. So werden mitunter plötzlich auftretende ZustĂ€nde von Kontrollverlust, an die sich die Betroffenen im Nachhinein nicht erinnern können, darauf zurĂŒckgefĂŒhrt, dass sich die Geister spontan eines Körpers bemĂ€chtigt haben. Eine tiefenpsychologische Sichtweise legt nahe, dass so etwa unbewusste
âMich interessiert vor allem dieser Prozess der Sozialisierung von Besessenheit.â
WĂŒnsche oder Aggressionen zum Ausdruck kommen; aus Sicht der Vodou-AnhĂ€nger handelt es sich dabei um Besessenheit im FrĂŒhstadium und wird als âwilde Besessenheitâ oder caballo lobo (Wolfspferd) bezeichnet. âDie Ursachen der Symptomatik von caballo loboâ, erklĂ€rt die Medizinanthropologin, âwerden aus lokaler Sicht so gesehen, dass die Geister mit einer Person Verbindung aufnehmen, die betroffene Person aber nicht ĂŒber ausreichend spirituelle Kraft verfĂŒgt, um die Geister zu ertragen.â Da, wie Betroffene immer wieder erzĂ€hlen, Ărzte keine physischen Ursachen fĂŒr die Beschwerden finden, vertrauen sie sich auf ihrer Suche nach Heilung irgendwann auch einem Vodou-Heiler an, der die Symptome schlieĂlich als Geistbesessenheit einordnet. âDurch diese neue Sichtweise und die Einbindung in ein soziales Netzwerk können die Betroffenen ihre Probleme oft ein StĂŒck weit bewĂ€ltigenâ, erlĂ€utert Schaffler die Dynamik. Hinzu kommt, dass das soziale Netzwerk bei Vodou-Zentren ĂŒber das Spirituelle weit hinausgeht. Die Menschen helfen einander. âIch denke, das ist auch ein wichtiger Grund, weshalb es den Betroffenen mit der Zeit besser geht. Sie werden in gemeinsame AktivitĂ€ten eingebunden. Schwere FĂ€lle werden sogar zeitweise in Vodou-Zentren aufgenommen, wo sie betreut werden und ganz elementare Aufgaben erfĂŒllen wie Kochen oder Putzen. Vodou-Feste heben die Stimmung, denn sie haben oft Partycharakter. âMich interessiert vor allem dieser Prozess der Sozialisierung von Besessenheit. AuĂerdem frage ich mich, zu welchem Lebenszeitpunkt die Symptome von Besessenheit auftreten und welche Funktion sie innerhalb einer Biographie erfĂŒllenâ, so die Wissenschafterin ĂŒber ihre Forschungsschwerpunkte.
Besessenheit und Trauma
Die Forscherin nĂ€hert sich ihrem Gegenstand nicht nur mit Interviews und Videoaufnahmen, sondern auch mit statistisch-quantitativen Methoden. Ein Thema, das erst seit kurzem so erforscht wird, ist die Verbindung von Besessenheit und Trauma. âBis dato gibt es dazu nur Studien, die in Afrika durchgefĂŒhrt wurdenâ, so Schaffler. SelbstverstĂ€ndlich haben nicht alle Personen, die Besessenheit praktizieren, traumatische Erfahrungen gemacht. Untersucht man aber eine gröĂere Gruppe von Personen, wird der Zusammenhang zwischen Trauma und Besessenheit sichtbar.
Medizinanthropologie â ein interdisziplinĂ€res Arbeitsfeld
Ihre Wissenschaft, die Medizinanthropologie, sieht Schaffler im Schnittbereich â als interdisziplinĂ€res Arbeitsfeld, das Medizin und angrenzende Naturwissenschaften sowie Geistes- und Sozialwissenschaften wie Kultur- und Sozialanthropologie, Psychologie und Medizinsoziologie verbindet. Selbst sieht sie sich auch insofern nicht mehr ganz als Sozialanthropologin, da sie an der MedizinuniversitĂ€t Wien beheimatet ist â âvon Medizinerinnen und Medizinern umgebenâ â und ihre Arbeit auch Aspekte aus anderen Disziplinen, wie zum Beispiel der Transkulturellen Psychiatrie, aufweist. âMir war natĂŒrlich klar, dass âmeineâ Vodou-Leute ganz schön viele Merkmale aufweisen, die auĂerhalb dieses speziellen Kontextes als pathologisch angesehen werdenâ, sagt Schaffler. Im reflexiven Blick der Medizinanthropologie macht es aber Sinn, diese Merkmale nicht ausschlieĂlich mit Krankheit in Verbindung zu bringen. Dissoziative ZustĂ€nde können, gerade wenn sie in Rituale eingebettet sind, auch lustvoll sein. âUndâ, gibt sie gleich zu bedenken, âman wird schnell von den Sozialanthropologen gegeiĂelt, wenn man pathologisiert. Da kommt es oft zu MissverstĂ€ndnissen, die â wie Schaffler bemerkt â aus einem disziplinĂ€ren UnverstĂ€ndnis kommen. âDas Problem istâ, resĂŒmiert sie, âdass viele nicht ĂŒber ihren Tellerrand schauen und das Eigene zur absoluten Wahrheit erheben.â
Yvonne Schaffler ist Kultur- und Sozialanthropologin und arbeitet im interdisziplinĂ€ren Bereich Medizinanthropologie. Ihr Hertha-Firnberg-Projekt des FWF zu âGeistbesessenheit: Modi und Funktionâ fĂŒhrte sie an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien durch. 2011 dissertierte Schaffler mit Auszeichnung an der UniversitĂ€t Wien. Die Wissenschafterin lehrt an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien und ist neben ihrer ForschertĂ€tigkeit in Ausbildung zur Psychotherapeutin.