Der Begriff Opfer ist in der deutschen Sprache vielschichtig. Unter Jugendlichen hat er zuletzt als Beleidigung Konjunktur erlebt. Ein religionspĂ€dagogisches Forschungsprojekt will junge Menschen fĂŒr Opfernarrative sensibilisieren. © Matt Botsford/unsplash

Was stellt man sich vor, wenn man den Begriff „Opfer“ hört? Geht es darum, dass jemand zum Opfer gemacht wird? Oder geht es um ein Opfer, das gebracht wird, um ein Ziel zu erreichen? Gerade unter Jugendlichen ist der Begriff besonders vielschichtig: Er kann sowohl Beleidigung sein („Du Opfer“) als auch zur Selbststilisierung, vielleicht gar mit dem Anspruch auf Wiedergutmachung, eingesetzt werden. WĂ€hrend das Englische beispielsweise klar zwischen „victim“ (Opfer einer Straftat) und „sacrifice“ (ein zu bringendes Opfer) unterscheidet, ist es im Deutschen gewohnt kompliziert.

Karin Peter vom Institut fĂŒr Praktische Theologie der UniversitĂ€t Wien beschĂ€ftigt sich mit unterschiedlichen Vorstellungen zum Begriff „Opfer“, im konkreten Fall von SchĂŒler:innen. Wobei dahinter eigentlich etwas GrĂ¶ĂŸeres steckt: die Frage, ob und wie sich die Theorie des Conceptual Change im Religionsunterricht einsetzen lĂ€sst. „Im Endeffekt geht es dabei um die Frage, wie sich Alltagsvorstellungen zu fachspezifischen Vorstellungen verhalten“, sagt Peter. „Aber dafĂŒr muss ich erstmal wissen, ob es zwischen diesen beiden ĂŒberhaupt einen Unterschied gibt.“ Das ist es, was im Projekt „ReligionspĂ€dagogische Analysen zur Opferthematik. Untersuchungen zwischen der Lebenswirklichkeit Jugendlicher und theologischer Tradition“ passiert, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird.

Vom Alltags- zum Fachwissen

Grob gesagt basiert die Theorie des Conceptual Change auf der Annahme, dass SchĂŒler:innen und andere Lernende mit bestehenden Vorstellungen zu einem Begriff oder PhĂ€nomen in den Unterricht eintreten, die einem AlltagsverstĂ€ndnis entsprechen. Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, diese individuellen Vorstellungen im Prozess zu verĂ€ndern – eben einen Konzeptwandel bei dem:der Lernenden auszulösen, in Richtung eines fachspezifischen VerstĂ€ndnisses. Von intuitivem Wissen zum Fachwissen quasi. „Mit diesem Konzept hat man in den Naturwissenschaften beziehungsweise im MINT-Bereich gute Erfahrungen gemacht“, sagt Peter.

In den Naturwissenschaften gibt es da meist eine klare, vertikale Hierarchie: Meine Alltagsvorstellung des PhĂ€nomens „Kraft“ hilft mir bei physikalischen Problemen nicht unbedingt weiter. Im schlimmsten Fall schadet sie sogar, weil sie mich im fachspezifischen Kontext auf die falsche FĂ€hrte fĂŒhrt. Wobei auch in den MINT-FĂ€chern meist kein vollstĂ€ndiger Wandel erreicht wird: Wer am Vormittag „Kraft“ im Physikunterricht korrekt verwendet, kann es am Nachmittag wieder im Sinne eines Alltagsbegriffes benutzen. „Es ist deshalb wichtig, einen solchen Vorstellungswechsel auch in einem horizontalen Sinn zu verstehen“, sagt Peter. „Verschiedene Vorstellungen können gleichrangig nebeneinander existieren und von Personen je nach Kontext abgerufen werden.“

Studie zum Opferbegriff von Jugendlichen

Der Begriff „Opfer“ eignet sich fĂŒr Forschungen im theologischen Kontext gut, weil er so verschiedene Bedeutungen hat: von „Opfer sein“ bis zu „Opfer bringen“. Welche Vorstellungen unter den SchĂŒler:innen vorherrschen, hat Peter im Zuge einer explorativ-qualitativen Studie untersucht. Explorativ-qualitativ bedeutet, dass man ergebnisoffen herangeht, den Teilnehmer:innen möglichst wenig Vorgaben gibt und sich neue Erkenntnisse erhofft. Oder zumindest AnsĂ€tze, die einem zeigen, wo es sich lohnt, weiterzuforschen.

FĂŒr die Studie beantworteten 42 SchĂŒler:innen der 11./12. Jahrgangsstufe an vier österreichischen Gymnasien im Rahmen des katholischen Religionsunterrichts schriftlich einen Fragebogen. Dieser umfasste zwei Fragestellungen: Beide Male wurde nach der Vorstellung des „Opfers“ gefragt, nur war die Frage beim ersten Mal alltagsweltlich gerahmt, beim zweiten Mal theologisch. Das passiert mittels semantischer Marker – Begriffen oder Phrasen, die einen bestimmten Kontext eröffnen, wie zum Beispiel Familie, Freunde oder Schule fĂŒr die alltĂ€gliche Lebenswelt von SchĂŒler:innen, der Verweis auf Jesus fĂŒr einen theologischen Horizont. Im Anschluss wurden die Fragebögen qualitativ ausgewertet hinsichtlich der Frage, ob und wie sich alltagsweltliche in fachspezifisch-theologische Vorstellungen transformieren.

Theologische Intuition

„Wir konnten in den Antworten fĂŒnf Transformationsmuster identifizieren“, sagt Peter. Diese seien Konsistenz (die Motive und Merkmale Ă€ndern sich nicht oder kaum), Fokussierung (einzelne Motive oder Merkmale fallen weg), Adaptierung (leichte VerĂ€nderungen von Motiven oder Merkmalen), Figuration (grundlegende VerĂ€nderungen von Motiven oder Merkmalen) und Neuthematisierung (Einbringen von Aspekten, die vorher nicht Thema waren). „Inhaltlich konnten wir einige Gemeinsamkeiten in den Transformationsmustern feststellen“, sagt Peter. Mit dem Wechsel zum theologischen Kontext wĂŒrde hĂ€ufig die Besonderheit und Einzigartigkeit des Opfers Jesu betont. Da wĂŒrden sich oft bereits AnsĂ€tze einer fachspezifisch-theologischen Vorstellung widerspiegeln. „Wenn man so will, haben die SchĂŒler:innen so etwas wie eine ‚theologische Intuition‘, die aber einer Vertiefung und Differenzierung bedarf.“

Auf dieser Grundlage könnten sich in Zukunft fĂŒr Religionslehrer:innen neue und/oder verbesserte Wege ergeben, den Jugendlichen die theologisch relevante Vorstellungswelt nĂ€herzubringen. Karin Peters Forschung ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.


Zur Person

Karin Peter studierte Theologie und ReligionspĂ€dagogik in Innsbruck. Neben ihrem berufsbegleitenden Doktoratsstudium unterrichtete sie Katholische Religion an einer Hauptschule, anschließend lehrte sie an der Kirchlichen PĂ€dagogischen Hochschule Edith Stein in Tirol. Seit 2014 ist sie als Postdoc am Institut fĂŒr Praktische Theologie der UniversitĂ€t Wien tĂ€tig, seit 2019 als Projektleiterin des vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Elise-Richter-Projekts „ReligionspĂ€dagogische Analysen zur Opferthematik“ (2019–2023).


Publikationen

Peter K., Lehner-Hartmann A., Stockinger H.: Religion betrifft Schule. Religiöse PluralitÀt gestalten, in: Brennpunkt Schule, Kohlhammer 2022

Peter, Karin: Poster: Transformationsmuster juvenilen Theologisierens. Potential des conceptual change-Ansatzes fĂŒr die Religionsdidaktik – exemplarisch im Kontext der Opferthematik, in: Theo-Web, 20(2), 176–181, 2021