Die frĂŒhen, oft einfachen Melodien könnten der SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis der Komposition von Psalmen im byzantinischen Gesang sein. Im Bild: der Beginn von Psalm 103,28 um 1400. © Ă–sterreichische Nationalbibliothek

„Öffnest Du Deine Hand, werden sie satt an Gutem.“ Diese – gesungenen – Worte standen am Beginn des tĂ€glichen Abendgottesdienstes in Byzanz. Psalmen wie dieser – der Begriff beschreibt poetisch gehaltene, alttestamentarische Kurztexte – spielen auch in der Westkirche eine Rolle. Doch in der orthodoxen Tradition haben sie eine ungleich grĂ¶ĂŸere Bedeutung. In vertonter Form sind sie bis heute strukturtragendes Element der liturgischen Riten – vor allem der Stundengebete wie der Morgen- und Abendoffizien. Dem oben zitierten Psalm 103,28 (104 in der ZĂ€hlung nach der EinheitsĂŒbersetzung) folgten auch im Abendoffizium eine Reihe weiterer vertonter Bibeltexte.

Die Melodien, denen diese PsalmgesĂ€nge der Ostkirche zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert folgten, stehen im Zentrum des aktuellen Forschungsinteresses von Nina-Maria Wanek. Die Musikwissenschaftlerin, GrĂ€zistin und Byzanzforscherin möchte in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt zur „Komposition von Psalmen in Mittel- und SpĂ€tbyzanz“ erstmals in der einschlĂ€gigen Forschung eine systematische Geschichte der melodischen Formeln erarbeiten, die damals mit den Psalmen verbunden wurden. „Im Zuge meiner Arbeit sollen auch eine Reihe weiterer Forschungsfragen in diesem Bereich geklĂ€rt werden – etwa wie statisch oder verĂ€nderlich diese frĂŒhen Psalmmelodien ĂŒber die Jahrhunderte hinweg waren“, erklĂ€rt Wanek.

Unterschiedliche Glaubenskulturen in Ost und West

Ost- und Westkirche gingen bereits frĂŒh getrennte Wege. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches im vierten Jahrhundert akzeptierten die GlĂ€ubigen im Westen mit der Hauptstadt Rom nach und nach den Papst als Oberhaupt aller Christen. Im Oströmischen Reich galt dagegen der Patriarch von Konstantinopel als Leitfigur der Kirche. Als es nach Jahrhunderten der Konflikte im 11. Jahrhundert zum endgĂŒltigen Bruch zwischen Ost- und Westkirche kam, hatten sich lĂ€ngst zwei von großen Unterschieden geprĂ€gte christliche Glaubenskulturen entwickelt: Im Westen war Latein die Kirchensprache, im Osten wurde Griechisch gesprochen. Nicht nur kirchliche GebrĂ€uche waren unterschiedlich, auch in handfesten Glaubensfragen – beispielsweise bei der Rolle des Heiligen Geistes – weichen West- und Ostkirche, an die spĂ€ter einerseits die römisch-katholische und evangelische, andererseits die orthodoxen Kirchen anschließen sollten, stark voneinander ab.

Zu den Unterschieden gehörte bereits damals, dass fĂŒr die Ostkirche die Stundengebete besonders wichtig waren. „Dabei kommt Psalmen eine besondere Bedeutung zu. Hier entstand im Mittelalter ein komplexes Regelgeflecht, das fĂŒr jede liturgische Feier bestimmte Psalmen vorsah, zum Teil wurden sie rezitiert, meist aber gesungen“, erklĂ€rt Wanek. „In der Westkirche wurden im Mittelalter ebenfalls Psalmen gesungen, allerdings kommt ihnen keine so stark gliedernde Rolle zu wie ihren östlichen Pendants.“ Bekannt bis heute sind die gregorianischen GesĂ€nge der Westkirche im Mittelalter, die man als ein Pendant fĂŒr die PsalmengesĂ€nge der Ostkirche sehen kann.

Niederschriften von ausgeschmĂŒckten GesĂ€ngen

„Von den frĂŒhen PsalmgesĂ€ngen, die vor dem 14. Jahrhundert genutzt wurden, gibt es nur ganz wenige schriftliche Überlieferungen, zu denen etwa die Anabathmoi zĂ€hlen, die sogenannten Gradualpsalmen, die schon in Handschriften aus dem 11. Jahrhundert zu finden sind“, schildert Wanek. „Ab dem 14. Jahrhundert gibt es dagegen ausfĂŒhrliche Niederschriften der PsalmgesĂ€nge – wahrscheinlich deshalb, weil man damals begann, die Melodien stark zu erweitern und mit zahlreichen Verzierungen zu versehen, sodass man nicht mehr alles im GedĂ€chtnis behalten konnte.“

Beginn von Psalm 1: Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, ca. 1341–1360 © Athener Nationalbibliothek

Über die frĂŒhen, vergleichsweise unbekannten Melodien möchte Wanek nun mehr herausfinden. „Diese PsalmgesĂ€nge waren wahrscheinlich sehr einfach gehalten, deshalb spricht man hier auch von der ,einfachen Psalmodie‘“, erklĂ€rt die Musikwissenschaftlerin. Einer der wichtigsten methodischen AnsĂ€tze, die Wanek in ihren Forschungen nutzt, ist die Komparatistik. „Zu meiner Arbeit gehören eingehende Vergleiche zwischen den melodischen Formeln aus den frĂŒhen und spĂ€teren Quellen. Es soll herausgefunden werden, wie viel von den alten Melodien auch noch in den neueren Varianten steckt.“

Traditioneller Gesang, der wenigen VerÀnderungen unterlag

In der byzantinischen Gesellschaft war es wichtig, die Traditionen zu bewahren – auch in der Musik. „Die Melodien wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Innovationen waren nicht gefragt, es wurde wenig grundlegend Neues komponiert, Instrumente und Mehrstimmigkeit waren damals und sind noch heute in der griechischen Kirche verboten“, umreißt Wanek den kulturellen Kontext. „Die ,Melismen‘ genannten Verzierungen – heute wĂŒrde man sie als Koloraturen bezeichnen – der spĂ€teren, ĂŒberlieferten Melodien machen die StĂŒcke zwar lĂ€nger und verspielter, bewahrten aber zumeist immer noch den Kern der alten, mĂŒndlich ĂŒberlieferten Melodien.“

Vor diesem Hintergrund ist es fĂŒr Wanek naheliegend, auch an Rekonstruktionen zu arbeiten und aus den vorhandenen Quellen auf die frĂŒheren GesĂ€nge zu schließen. „Es ist, als hĂ€tte man eine ausufernde Oper, die auf dem Lied ,Alle meine Entchen‘ basiert – das man allerdings nicht kennt. Die Herausforderung ist nun, diese einfache Melodie inmitten aller ĂŒberbordenden Verzierungen zu identifizieren und herauszudestillieren“, so der anschauliche Vergleich der Wissenschaftlerin.

Singen nach „Art der Hagia Sophia“

Letztendlich soll ein historischer Abriss entstehen, der die Zeit vom 10. bis zum 15. Jahrhundert umfasst. Ein annotierter, systematisch organisierter und kommentierter Melodiekorpus soll eine wissenschaftlich fundierte Übersicht ĂŒber die Psalmmelodien dieser Zeit bringen. Gleichzeitig soll auch der Einfluss von liturgischen Entwicklungen – beispielsweise der Verschmelzung verschiedener Kathedral-Riten aus Klöstern und StĂ€dten im spĂ€ten 14. Jahrhundert – auf die Entwicklung der PsalmgesĂ€nge untersucht werden. Dabei helfen auch Vergleiche mit weiteren Gesangsgattungen jener Zeit, oder zwischen Melodien, die mit verschiedenen geografischen Zuschreibungen versehen sind – manche der ĂŒberlieferten Formeln weisen Angaben wie „nach Art des Athos“ oder „nach Art der Hagia Sophia“ auf. Auch hier möchte die Musikwissenschaftlerin herausfinden, ob diese Vermerke tatsĂ€chlich Herkunftsbezeichnungen sind, vielleicht auf lokale Traditionen verweisen oder doch andere Bedeutungen haben.

Wanek möchte mit ihrer Arbeit eine Basis legen, die es Wissenschaftler:innen kĂŒnftig einfacher machen soll, sich mit diesem Teilbereich der byzantinischen Kultur zu beschĂ€ftigen. Denn einer der grĂ¶ĂŸten Hemmschuhe fĂŒr die Forschung auf diesem Gebiet ist die schlechte VerfĂŒgbarkeit der Quellen. „Anders als in anderen Disziplinen gibt es keine Datenbanken, die die ĂŒber die ganze Welt verstreuten Originalquellen zusammenfĂŒhren. Wichtige Handschriftensammlungen sind nur vor Ort zugĂ€nglich. Es gibt in Griechenland Dokumente auf Mikrofilmen, die in den 1930er-Jahren erstellt wurden – und in einem dementsprechend schlechten Zustand sind. Auch am Berg Athos, der bekanntlich fĂŒr Frauen nicht zugĂ€nglich ist, sind wohl BestĂ€nde vorhanden“, zĂ€hlt die Musikwissenschaftlerin auf. „Diese schwierige Quellenlage ist dafĂŒr mitverantwortlich, dass so wenige Studien zu den PsalmgesĂ€ngen, aber auch allgemein zur byzantinischen Musik existieren.“ Wanek möchte dazu beitragen, die byzantinische Musik, die 2019 von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklĂ€rt wurde, stĂ€rker in den Fokus der Wissenschaft zu bringen. Davon wĂŒrde auch, ist Wanek ĂŒberzeugt, die Erforschung der westlichen mittelalterlichen Musik profitieren.

Zur Person

Nina-Maria Wanek erforscht seit mehr als zwanzig Jahren die byzantinische Kirchenmusik, aber auch neugriechische Kunstmusik des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie promovierte an der UniversitĂ€t Wien und habilitierte sich 2006 fĂŒr Historische Musikwissenschaft. Wanek unterrichtet unter anderem am Institut fĂŒr Byzantinistik und NeogrĂ€zistik der UniversitĂ€t Wien. Gleichzeitig ist sie als literarische Übersetzerin fĂŒr Neugriechisch tĂ€tig. Seit 2020 lĂ€uft ihr Projekt zur „Komposition von Psalmen in Mittel- und SpĂ€tbyzanz“, das vom Wissenschaftsfonds FWF mit 330.000 Euro gefördert wird.

Projektwebsite: www.byzantinemusicology.com

Publikationen

Nina-Maria Wanek: Blessed is the Man 
 who Knows how to Chant this Psalm: Byzantine Compositions of Psalm 1 in Manuscripts of the 14th and 15th Centuries, in: Clavibus Unitis 9/4, 2020 (PDF)

Nina-Maria Wanek: Überblick ĂŒber die byzantinische Kirchenmusik, in: Ex Oriente Lux? Ostkirchliche Liturgien und westliche Kultur (H.-J. Feulner/A. Zerfass, Hg.), 237–264, Wien 2020