Schlaflabor
Um die personal- und zeitaufwendige Untersuchung im Schlaflabor abzulösen, entwickelte ein Team aus Innsbruck einen KI-basierten Ansatz, der REM-Schlaf-Verhaltensstörungen verlĂ€sslich erkennt. © Medizinische UniversitĂ€t Innsbruck

Wer an einer Schlafverhaltensstörung leidet, benimmt sich in der Nacht und wĂ€hrend des TrĂ€umens anders als am Tag. „Die Betroffenen verhalten sich zum Beispiel aggressiv oder gefĂ€hrlich. Manchmal tragen ihre Bettpartner:innen eine aufgeplatzte Lippe oder ein blaues Auge davon. Außerdem verletzen sich die Betroffenen selbst, beispielsweise weil sie aus dem Bett fallen“, sagt Birgit Högl, Neurologin und Leiterin der Abteilung fĂŒr Schlafmedizin der Medizinischen UniversitĂ€t Innsbruck. Hinter den nĂ€chtlichen GewaltausbrĂŒchen steht die Krankheit Isolated REM Sleep Behaviour Disorder (iRBD). Die AbkĂŒrzung REM (rapid eye movement) bezeichnet die betroffene Schlafphase, wĂ€hrend der sich gesunde Schlafende normalerweise nicht bewegen. Högl geht davon aus, dass eine von hundert Personen an iRBD erkrankt – MĂ€nner und Frauen, vorwiegend Ältere. Doch die genaue Zahl ist schwer abzuschĂ€tzen, weil viele Betroffene von ihrer Krankheit nichts wissen und VerdachtsfĂ€lle lange auf eine Untersuchung warten mĂŒssen.

Vor diesem Hintergrund entwickelte Högls Forschungsgruppe nun ein einmaliges Tool. Gemeinsam mit Heinrich Garn und Bernhard Kohn, zwei Experten vom Austrian Institute of Technology (AIT), kombinierten sie eine Hightech-Kamera mit kĂŒnstlicher Intelligenz (KI), um iRBD-spezifische Bewegungen zu erkennen. „Die Methode erreicht eine so hohe Genauigkeit, dass sie in der Klinik einsetzbar ist“, sagt Matteo Cesari, Bioingenieur und Erstautor einer aktuellen Studie aus dem Projekt. Das Forschungsvorhaben wurde vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert und mĂŒndete in ein EU-Projekt, das die Technik fĂŒr bevölkerungsweite Screenings einsatzfĂ€hig machen soll. Denn iRBD ist nicht nur gefĂ€hrlich fĂŒr die Betroffenen und ihre Bettpartner:innen, sondern gleichzeitig der sensitivste und spezifischste Marker fĂŒr den Untergang von Nervenzellen. Eine frĂŒhzeitige Diagnose ist der notwendige erste Schritt, um das Fortschreiten des neurodegenerativen Prozesses zu verlangsamen.

Im REM-Schlaf sollten die Muskeln gehemmt sein

Eine Schlafstörung ist leicht zu erkennen, wenn die Betroffenen nicht schlafen können. Weniger trivial ist es bei Diagnosen wie iRBD. Hier wird die Muskulatur wĂ€hrend des REM-Schlafs nicht gehemmt, wie es bei Gesunden der Fall wĂ€re. „Bei iRBD-Patient:innen sehen wir viele schnelle Zuckungen in den Beinen und Armen. Außerdem fĂŒhren die Personen BewegungsablĂ€ufe aus, bei denen man den Eindruck hat, sie agieren ihre TrĂ€ume im Liegen aus“, beschreibt Högl das Krankheitsbild.

Dass iRBD derzeit hĂ€ufiger bei MĂ€nnern diagnostiziert wird, erklĂ€rt sich die Expertin aus den LebensumstĂ€nden: WĂ€hrend viele Frauen in spĂ€teren Lebensphasen ohne Partner sind und daher alleine schlafen, schlafen Ă€ltere MĂ€nner meist noch neben einer Partnerin, sodass die Erkrankung eher auffĂ€llt. Im Allgemeinen bleibt iRBD jedoch oft unerkannt. „Manche Menschen wissen gar nicht, dass es nicht normal ist, im Schlaf zu tun, was man trĂ€umt“, bemerkt Högl.

iRBD als sicherer Marker fĂŒr Neurodegeneration

Wer ĂŒber 50 Jahre alt ist und auf einmal beginnt, im Schlaf auffĂ€llige Bewegungen oder Verhaltensweisen an den Tag zu legen (ob mit oder ohne TrĂ€ume), sollte ein Schlafzentrum aufsuchen. Zum einen, weil man die Symptome einer iRBD medikamentös lindern kann. Zum anderen, weil die Krankheit den Verlust von Nervenzellen anzeigt und mit anderen Erkrankungen zusammenhĂ€ngt. „90 Prozent der Patient:innen mit iRBD entwickeln eine neurodegenerative Erkrankung wie Parkinson, Lewy-Körperchen-Demenz oder Multisystematrophie“, so Högl. Das geschehe oft im Verlauf von mehreren Jahren.

Deshalb seien Patient:innen mit iRBD dafĂŒr prĂ€destiniert, neuentwickelte Medikamente zu erhalten, die den Prozess verlangsamen können. An solchen Behandlungen wird derzeit intensiv geforscht, unter anderem auch von Ambra Stefani und anderen Kolleg:innen aus Högls Abteilung. Denn wenn die erwĂ€hnten Erkrankungen einmal vorliegen, sind viele Nervenzellen bereits verloren gegangen. „Bei einer iRBD-Diagnose sind wir zehn Jahre frĂŒher dran. Doch das Nadelöhr ist das Schlaflabor“, bedauert die Neurologin.

Lange Wartezeiten fĂŒr Diagnostik

Bislang können Schlafstörungen nur an Schlafzentren zuverlĂ€ssig diagnostiziert werden. In einer Polysomnografie werden verschiedene Signale beim Schlafenden aufgenommen: unter anderem die Hirnstromkurve, Augenbewegungen, die Atmung, GerĂ€usche, der Muskeltonus und die Körper­lage. Alle Messungen werden gesammelt und manuell den Schlafphasen zugeordnet. Weil das entsprechend personal- und zeitaufwendig ist, wartet man bei österreichischen Schlafzentren teilweise ein Jahr lang auf einen Termin. Diesen Umstand nahm sich Högls Forschungsgruppe zum Anlass, eine automatisierte Lösung fĂŒr die iRBD-Diagnose zu entwickeln – mit dem Ziel, ein Werkzeug zu schaffen, das auch fĂŒr das Screening von Gesunden eingesetzt werden kann, um ein Risiko fĂŒr neurodegenerative Erkrankungen frĂŒhzeitig zu erkennen.

Zu den Personen

Birgit Högl leitet seit 24 Jahren das Schlaflabor an der Medizinischen UniversitĂ€t Innsbruck. 2019 wurde die Expertin fĂŒr Schlafstörungen zur Professorin fĂŒr Neurologie mit Schwerpunkt Schlafmedizin berufen. 

Matteo Cesari studierte Bioingenieurwesen in Italien und DĂ€nemark. Seit vier Jahren ist er als Postdoktorand in der Forschungsgruppe von Birgit Högl tĂ€tig.

Schlafmonitoring
WĂ€hrend der Untersuchung schlĂ€ft die Person unterhalb einer Time-of-Flight-Kamera, aus deren Daten ein KI-basiertes System ein Bewegungsprofil erstellt. Die Aufnahme dauert ca. 8 Stunden. In der aktuellen Version des Systems wird zeitgleich eine Polysomnografie, die Goldstandard-Schlafuntersuchung, aufgezeichnet. Anhand dieser ermitteln die Forschenden die Schlafphasen. © Medizinische UniversitĂ€t Innsbruck

Von der Spielkonsole ins Spital

„FĂŒr unsere Methode verwenden wir eine Time-of-Flight-Kamera, wie man sie aus der Spielkonsole Xbox als Kinect-Sensor kennt“, erlĂ€utert Cesari den Aufbau. Die 3D-Kamera sendet Infrarotstrahlen aus, die vom Körper der schlafenden Person zurĂŒckgeworfen und wieder detektiert werden. Daraus ergibt sich die Entfernung zwischen der Kamera und dem Menschen. „Wir nehmen 30 Bilder pro Sekunde auf und erhalten fĂŒr jedes Pixel die Distanz. Wenn sich die Entfernung Ă€ndert, dann bedeutet das, dass sich die Person bewegt“, so der Bioingenieur.

Vorhersagen erreichen 87 Prozent Genauigkeit

FĂŒr die Auswertung der Kameradaten entwarfen die Forschenden eine KI-basierte Lösung, mit der sie die hĂ€ndische Arbeit so weit wie möglich minimierten. In ihrer Studie prĂ€sentieren Cesari und Kolleg:innen die neueste Version des Systems, das die Auswertungen mehrerer Körperpartien ĂŒber maschinelles Lernen zusammenfĂŒhrt. „Wir kombinieren die Bewegungen der Beine, des Oberkörpers, der HĂ€nde und des Kopfes, die im REM-Schlaf auftreten. Erst mit dieser Überlagerung kann man die beste Leistung erreichen“, so Cesari. Das System erkannte iRBD-Patient:innen mit 87 Prozent Treffsicherheit, was der – ungleich aufwendigeren – multifaktoriellen Untersuchung im Schlafzentrum nahekommt. FĂŒr den letzten Schliff soll nun eine EU-weite Kooperation sorgen.

Innsbrucker Team koordiniert EU-Projekt

Um eine iRBD zu diagnostizieren, muss das System zuordnen, welche der Bewegungsdaten aus den REM-Schlafphasen stammen. FĂŒr diesen Schritt bedarf es derzeit noch zusĂ€tzlicher Messungen. „Als NĂ€chstes wollen wir die Methode unabhĂ€ngig machen. Dazu koordinieren wir eine EU-weite Studie mit 300 Proband:innen“, sagt Cesari. Beteiligt sind etablierte Schlaflabore aus Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich. Im selben Zug soll die Hardware von 2 Kilogramm auf 13 Gramm abgespeckt und dadurch mobil werden.

Am Ende soll eine Art „automatisiertes Schlaflabor fĂŒr zu Hause“ entstehen, das bei bevölkerungsweiten Vorsorgeuntersuchungen genutzt werden kann. Personen aus Risikogruppen könnten von dem System besonders profitieren, etwa Bewohner:innen von Altersheimen, fĂŒr die ein Krankenhausbesuch oft mĂŒhevoll ist. „Wenn Menschen an iRBD erkranken, dann brauchen sie eine gute Diagnose, Beratung und Kontrolle“, bekrĂ€ftigt Högl. „Sie sollten wissen, was die Krankheit bedeutet und dass es möglich ist, eine neurodegenerative Erkrankung hinauszuzögern.“

Das Projekt „Erweiterte Video- und Audioanalyse von Schlafstörungen mit motorischen Ereignissen“ wurde in Zusammenarbeit mit dem  Austrian Institute of Technology (AIT) durchgefĂŒhrt und vom Wissenschaftsfonds FWF mit 315.642 Euro gefördert. Die Ergebnisse ermöglichten das derzeit laufende EU-Projekt „BRAVA – Behaviours in REM sleep: personalised Automatic 3D Video Analysis as novel tool to detect alpha-synucleinopathies“.