Anlaufstellen für Betroffene
Long Covid und ME/CFS sind komplexe Erkrankungen mit sich überlappenden Symptomen. Während ME/CFS lange Zeit kaum wahrgenommen wurde, haben der Ausbruch der Coronapandemie im Jahr 2020 und der dramatische Anstieg von Long-Covid-Fällen chronische Fatigue und ihre schwerwiegenden Folgen in das öffentliche Bewusstsein gerückt.
Francisco Westermeier, ein chilenischer Biochemiker mit einer postgradualen Ausbildung in kardiovaskulärer Physiologie, ist an der FH Joanneum in Graz tätig. Er ist einer von vielen internationalen Forschenden, die intensiv daran arbeiten, die zugrunde liegenden Mechanismen dieser postviralen Erkrankungen besser zu verstehen. Denn angesichts der Komplexität von ME/CFS und Long Covid sind Diagnosen schwierig.
Westermeier untersucht kardiovaskuläre und metabolische Prozesse. Er arbeitet weltweit mit Forschungsgruppen, Stiftungen und Patientenvertretungen zusammen, mit dem Ziel, wissenschaftlichen Fortschritt und Aufklärung zu unterstützen. Im Interview mit scilog erklärt der Wissenschaftler, warum er zuversichtlich ist, dass in naher Zukunft Biomarker für gezielte Diagnostik und Therapien gefunden werden.
Am 12. Mai findet jährlich der Internationale ME/CFS Awareness Day statt, mit zahlreichen Aktionen und Events. Betroffene machen auf die prekäre Lage bezüglich Forschung, Therapie und Aufklärung aufmerksam.
Herr Westermeier, was genau ist das chronische Erschöpfungssyndrom (CFS)?
Francesco Westermeier: ME/CFS ist eine chronische, schwächende und multisystemische Krankheit, von der mehr Frauen als Männer betroffen sind. Sie führt häufig zu einem drastischen Verlust der Funktionsfähigkeit – etwa 75 Prozent der Betroffenen sind arbeitsunfähig, und ein erheblicher Anteil ist an das Haus gebunden oder bettlägerig. Obwohl die genaue Ursache unklar bleibt, berichten die meisten Patient:innen über eine vorausgehende infektiöse Episode.
Die Erkrankung betrifft unter anderem das Nerven-, Immun- und Herz-Kreislauf-System und äußert sich in einer Vielzahl von Symptomen. Am charakteristischsten ist das Unwohlsein nach Anstrengung (Post-Exertional Malaise, PEM) – eine Verschlimmerung der Symptome schon nach geringen körperlichen oder geistigen Aktivitäten, die Tage oder Wochen andauert. Weitere häufige Symptome sind Konzentrationsschwierigkeiten, „Gehirnnebel“, Schlafstörungen, Schwindel und Unwohlsein in aufrechter Haltung, obwohl die Symptommuster variieren und auch den Magen-Darm-Trakt oder den Bewegungsapparat betreffen können.
Sie sind Experte für das Herz-Kreislauf-System, wo setzen Sie in Bezug auf die Erkrankung Ihre Forschung an?
Westermeier: Ich begann mich für die Krankheit zu interessieren, da zum Zeitpunkt des Beginns unserer Forschung nur sehr wenige Informationen über kardiovaskuläre Veränderungen bei ME/CFS verfügbar waren. Aufgrund meines Hintergrunds in kardiovaskulärer Physiologie wollte ich diesen Bereich weiter erforschen.
Eine Schlüsselkomponente des Herz-Kreislauf-Systems ist das Endothel – die dünne Zellschicht, die das Innere der Blutgefäße auskleidet. Diese Endothelzellen spielen eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Blutflusses, der Versorgung des Gewebes mit Sauerstoff und Nährstoffen und dem Abtransport von Abfallstoffen. Wenn das Endothel nicht richtig funktioniert – ein Zustand, der als endotheliale Dysfunktion bekannt ist –, sind diese Prozesse beeinträchtigt, was zu vielen der bei ME/CFS und Long Covid beobachteten Symptome beitragen kann. Unsere Forschung konzentriert sich auf die Frage, wie Endothelzellen in diesem Zusammenhang beeinflusst werden, insbesondere im Hinblick auf ihre Fähigkeit, die Gefäßfunktion aufrechtzuerhalten.
„Die Covid-19-Pandemie hat als Katalysator für die ME/CFS-Forschung gewirkt. “
Wie gehen Sie vor?
Westermeier: Aufbauend auf früheren Arbeiten untersuchen wir derzeit die Auswirkungen von Patientenplasma auf Endothelzellen. In Zusammenarbeit mit Eva Untersmayr-Elsenhuber von der Medizinischen Universität Wien haben wir Proben einer österreichischen Kohorte erhalten, die Personen umfasst, bei denen entweder ME/CFS oder Long Covid diagnostiziert wurde. Wir inkubieren Endothelzellen in vitro mit diesem Plasma, um Aspekte der In-vivo-Umgebung zu imitieren.
Eine Schlüsselfunktion der Endothelzellen ist die Produktion von Stickstoffmonoxid, einem Signalmolekül, das den Blutfluss und die Nährstoffzufuhr unterstützt. Unsere Forschung konzentriert sich auf die Stoffwechselwege, die an der Stickstoffoxid-Synthese beteiligt sind. Kürzlich haben wir festgestellt, dass das Plasma von ME/CFS-Patient:innen die Fähigkeit der Endothelzellen, Stickstoffmonoxid zu produzieren, verringert, was auf eine endotheliale Dysfunktion auf zellulärer Ebene hindeutet.
Gibt es Unterschiede zwischen Long Covid und ME/CFS?
Westermeier: Zum jetzigen Zeitpunkt können wir das nicht mit Sicherheit sagen. Obwohl die Symptome oft ähnlich sind, scheint es Unterschiede zwischen den Patientenuntergruppen zu geben. In unseren Analysen berücksichtigen wir relevante Faktoren wie Geschlecht und Alter. Wir müssen jedoch vorsichtig sein, wenn wir Erkrankungen wie ME/CFS und Long Covid vergleichen, da aussagekräftige Analysen gut aufeinander abgestimmte Kohorten, standardisierte Diagnosekriterien und ausreichende Stichprobengrößen erfordern, um biologische und klinische Heterogenität zu berücksichtigen.
„Wir brauchen ein größeres Bewusstsein im gesamten Gesundheitssystem. “
Was wissen Sie über Risikogruppen?
Westermeier: Bislang scheinen Frauen häufiger betroffen zu sein als Männer, das Verhältnis wird auf etwa 3 zu 1 geschätzt. Ob dies jedoch einen echten biologischen Risikofaktor oder Unterschiede in der Immunreaktion, im Hormonspiegel oder in den Diagnosemustern widerspiegelt, wird noch untersucht. In einer kürzlich durchgeführten Studie haben wir die mögliche Rolle von Steroidhormonen untersucht, aber es sind noch weitere Untersuchungen erforderlich, um einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Das Alter kann ebenfalls einen Einfluss auf das Auftreten der Symptome haben, aber ME/CFS und Long Covid betreffen Menschen über die gesamte Lebensspanne, einschließlich vieler junger Erwachsener und Jugendlicher.
Sind Personen mit chronischen Erkrankungen eher gefährdet?
Westermeier: Das ist eine wichtige und komplexe Frage. Zwar gibt es derzeit keine schlüssigen Beweise dafür, dass bestehende chronische Erkrankungen das Risiko erhöhen, am chronischen Fatigue-Syndrom zu erkranken, doch spielen Begleiterkrankungen eine entscheidende Rolle bei der Diagnose, Untersuchung und Behandlung. Bei Menschen mit anderen chronischen Krankheiten werden Diagnosen oft verspätet oder gar nicht gestellt, was zum Teil auf sich überschneidende Symptome und das Fehlen standardisierter Diagnosekriterien zurückzuführen ist.
Aus Sicht der Forschung bringen Komorbiditäten zusätzliche Komplexität mit sich, spiegeln aber auch den realen klinischen Kontext wider. Diese koexistierenden Erkrankungen können die langfristigen Ergebnisse, die Symptombelastung und das Ansprechen auf die Behandlung beeinflussen. Daher ist es wichtig, Personen mit anderen Erkrankungen in Studien einzubeziehen, um die Variabilität der Krankheit besser zu erfassen und die Anwendbarkeit der Ergebnisse zu verbessern. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert internationale Zusammenarbeit und die Integration verschiedener Fachgebiete.
Wo steht die Forschung zu ME/CFS international?
Westermeier: Die Covid-19-Pandemie hat als Katalysator für die ME/CFS-Forschung gewirkt. Während die Pandemie selbst immense Herausforderungen mit sich brachte, hat sie auch die Aufmerksamkeit auf postvirale Syndrome gelenkt und das Interesse und die Finanzierung in diesem Bereich beschleunigt. In den vergangenen fünf Jahren haben wir bedeutende Fortschritte gesehen: Biobanken wurden eingerichtet, große klinische Daten wurden verfügbar und kollaborative Forschungsnetzwerke haben sich verstärkt.
Ein Hauptaugenmerk liegt nun auf der Ermittlung zuverlässiger Biomarker und der Einteilung von Patient:innen in biologisch definierte Untergruppen. Dies ist entscheidend für die Verbesserung der Diagnostik, das Verständnis der Krankheitsmechanismen und die Entwicklung gezielter Maßnahmen. Trotz dieser Fortschritte gibt es noch große Herausforderungen, zum Beispiel fehlen standardisierte Diagnosekriterien. Wir haben nur begrenzte Behandlungsmöglichkeiten und wir benötigen validierte Modelle, um die Krankheitsmechanismen zu untersuchen. Dennoch bin ich optimistisch, dass diese koordinierten Bemühungen in den kommenden Jahren zu bedeutenden Durchbrüchen führen werden.
Sie sind weltweit in Forschung und Medizin vernetzt, aber auch mit Patientenverbänden. Vor welchen Herausforderungen stehen Betroffene und das Gesundheitswesen?
Westermeier: Eines der größten derzeitigen Defizite ist der fehlende interdisziplinäre Austausch und die Notwendigkeit, die medizinische Aus- und Weiterbildung in diesem Bereich zu verbessern. Ein größeres Bewusstsein und Wissen über ME/CFS und Long Covid im gesamten Gesundheitssystem ist unerlässlich. Erfreulicherweise gibt es inzwischen in vielen Teilen der Welt Bemühungen, diese Wissenslücke zu schließen. In Wien beispielsweise spielt die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS eine wichtige Rolle als Anlaufstelle für Betroffene, und die Zahl der Fachkräfte im Gesundheitswesen, die sich mit diesen Erkrankungen auskennen, nimmt stetig zu.
Als Forschende mit Sitz in Graz arbeiten wir eng mit mehreren Grundlagen- und klinischen Forschungsgruppen in der ganzen Welt zusammen. Eine besonders ermutigende Entwicklung ist die kürzlich erfolgte Gründung des Nationalen Referenzzentrums für postvirale Syndrome an der Medizinischen Universität Wien, das vom österreichischen Gesundheitsministerium initiiert wurde. Dieses Zentrum stellt einen wichtigen institutionellen Schritt nach vorne dar. Das Zentrum dient als nationale Drehscheibe für evidenzbasiertes Wissen, interdisziplinären Austausch und Ausbildung. Es wird die Forschung zu postviralen Syndromen vorantreiben und Schulungen für medizinisches Fachpersonal anbieten.
Zur Person
Francisco Westermeier ist Biochemiker und promovierte in Physiologie. Während seines Doktoratsstudiums war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Universität Graz tätig. Seit 2018 lehrt und forscht er an der FH Joanneum, wo er eine Gruppe zum Thema ME/CFS leitet. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf kardiovaskulären und metabolischen Abnormalitäten bei postviralen Syndromen. Westermeier leitet das klinische Projekt „Endotheliale Dysfunktion bei chronischen Müdigkeitssyndromen“, das vom Wissenschaftsfonds FWF mit 300.000 Euro gefördert wird.
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und Long Covid sind schwere, chronische Multisystemerkrankungen, die je nach Ausprägung zu erheblichen körperlichen und kognitiven Einschränkungen, zum Verlust der Arbeitsfähigkeit bis hin zur Pflegebedürftigkeit, einschließlich künstlicher Ernährung, und in sehr schweren Fällen zum Tod führen können.
Das chronische Fatigue-Syndrom betrifft u. a. das Nervensystem, das Immunsystem, das kardiovaskuläre System – insbesondere die Endothelzellen der Gefäße – und die Energiegewinnung in den Mitochondrien, zusätzlich das Darmmikrobiom wie auch die Durchblutung von Muskulatur, Gehirn und anderen Organen.
Mehr als zwei Drittel der ME/CFS-Betroffenen sind Frauen. Das Syndrom kann in allen Altersgruppen auftreten, wobei der Altersgipfel seit den zusätzlichen ME/CFS-Fällen durch die SARS-CoV‑2-Pandemie zwischen 30 und 50 Jahren liegt.
Nach internationalen Daten waren vor der Coronapandemie 2,4 bis 7,2 Millionen der Weltbevölkerung betroffen. Für Österreich und die Schweiz liegen die Schätzungen zwischen 26.000 und 80.000 Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Studien zufolge haben sich die Zahlen nach der Covid-19-Pandemie mindestens verdoppelt. Bis zur Diagnose vergehen durchschnittlich fünf bis acht Jahre.