Österreichs politische Teilhabe wird zunehmend bewegter. © Haeferl CC BY-SA 3.0

Österreich gilt im internationalen Vergleich als eher konsensual. Eine funktionierende Sozialpartnerschaft und stabile Mehrheiten in der Regierung galten viele Jahre als Basis für vergleichsweise wenig Proteste. Doch stimmt das überhaupt? Dieser Frage geht Martin Dolezal, unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF, derzeit am Institut für Höhere Studien nach. In den Agenturmeldungen der nationalen Nachrichtenagentur APA (Austria Presse Agentur) von 1998 bis 2016 erfasst Dolezal Protest-Ereignisse zunächst unabhängig von Ort und Thema. Ziel ist, einen Datensatz zu generieren, angereichert mit Parametern wie Teilnehmerzahl, Organisator des Protests, Forderungen und Protestform. So will der Politikwissenschaftler etwaige Veränderungen in den Konfliktstrukturen in Österreich unter anderem vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Regierungskonstellation in Bund und Ländern erkennen.

Form und Verbreitung unkonventioneller Partizipation

„Unkonventionelle Partizipation“ verwendet Martin Dolezal als Überbegriff für die politische Partizipation abseits des Kreuzchens auf dem Wahlzettel.  Es gibt weiche und harte Formen: Petitionen oder Mahnwachen, Flash Mobs, Demonstrationen bis zu Protesten mit Sachbeschädigung oder gar Personenschaden. Letztere sind in Österreich übrigens Ausnahmen. Im fachlichen Diskurs werden westliche Gesellschaften gegenwärtig mit der „Movement Society Thesis“ nach Meyer und Tarrow umschrieben. Sie besagt, dass politischer Protest nicht mehr außergewöhnlich ist und von Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht und Ideologie ausgeübt wird. Diese Aussage würde Martin Dolezal „so für keine Gesellschaft der Welt unterschreiben“. Es zeigt sich aber, dass die relative Bedeutung einzelner Themengebiete abnimmt, weil sukzessive neue Themen bei Protesten artikuliert werden. Das trifft für Österreich tatsächlich zu.

Wie protestiert Österreich?

Der Vorteil der gewählten Datenquelle in dem aktuellen Grundlagenprojekt liegt in der geografisch gleichmäßig verteilten Berichterstattung aus ganz Österreich: „Die Gesamtmenge aller Protestereignisse ist unbekannt. Durch die Suche nach definierten Schlagworten versuchen wir uns anzunähern und sie strukturiert zu erheben. Aufwändig ist das Aussortieren der falsch positiven Treffer, weil ja auch Automodelle „demonstriert“ werden oder Kammervertreter protestieren. Ich nehme Letztere nicht auf, da es sich um einen rein verbalen oder schriftlichen Protest handelt – aber nicht um eine Handlung, die als Protestereignis definiert werden kann“, beschreibt Martin Dolezal den nicht automatisierbaren Prozess. Das Jahr 2000 mit seiner politischen Wende, so zeigen erste Auswertungen des bis 2020 laufenden Projekts, brachte einen Peak in der politischen Partizipation auf der Straße, die ein Ausreißer bleibt. Über die 19 Jahre Beobachtungszeitraum bleibt die Protestintensität sonst relativ gleich, liegt aber nicht unter dem internationalen Durchschnitt. Gewichtet nach der Anzahl der Teilnehmenden über alle Protestformen hinweg ist die Rangfolge der Themen: Wohlfahrtsstaat, Umwelt und Wirtschaft. Platz eins überrascht, aber zum Thema Pensionen gab es weitreichende Unterschriftenaktionen. Die Auswertung auf Basis der Anzahl der Protestereignisse zeigt das Thema Umwelt auf Platz eins. Diesem folgen an zweiter und dritter Stelle gesellschaftspolitische Themen und Wirtschaft. Nicht erst seit den „Fridays for Future“ und der Klimakrise ist „Umwelt“ also Protestthema Nummer eins in Österreich.

Migration mobilisiert beide Seiten

In einer Detail-Auswertung hat sich Martin Dolezal angesehen, wie sich das Thema Migration in den Protesten manifestiert. Bemerkenswert ist hier, dass gewöhnlich nur eine Seite, also eine Pro- oder Kontra-Fraktion die unkonventionelle Partizipation wählt. Auch rufen traditionell eher politisch links zugeordnete Organisatoren zum Protest auf. Beim Thema Migration kam es – ausgelöst durch die Flüchtlingsbewegungen – 2015 und 2016 vorübergehend zu einem starken Anstieg der Proteste. Interessant für den Politikwissenschaftler ist zudem, dass in diesem Fall linke und rechte Akteurinnen und Akteure gleichermaßen zum Protest aufgerufen haben. Österreichs politische Teilhabe wird also, so wie in anderen Ländern auch, zunehmend bewegter. Dennoch gibt es ein Charakteristikum für das Land: Während Proteste und andere Aktionen zunehmen, sind die Werte bei der Wahlbeteiligung und bei der Parteimitgliedschaft nach wie vor sehr hoch.


Zur Person Martin Dolezal ist Fellow am Institut für Höhere Studien (IHS) und Senior Scientist in der Abteilung für Politikwissenschaft der Universität Salzburg, wo er im Horizon2020-Projekt "Populism and Civic Engagement (PaCE)" mitarbeitet. Sein Fachgebiet ist politische Partizipation sowie Wahl- und Parteienforschung in Österreich und im internationalen Vergleich. Er studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien und habilitierte sich 2011 an der Ludwig Maximilians Universität in München. 2009 bis 2015 war Dolezal als Universitätsassistent am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien an der Austrian National Election Study (AUTNES) beteiligt.


Publikationen

Martin Dolezal: From Party State to Movement Society? Conventional and Unconventional Democratic Practices in Austria, 1974–2018, in: Günter Bischof & David Wineroither (Hg.): Democracy in Austria (Contemporary Austrian Studies 28), Innsbruck University Press 2019
Martin Dolezal: Vom Parteienstaat zur Bewegungsgesellschaft? Unkonventionelle Formen politischer Partizipation in Österreich, 1974-2018, Blogbeitrag 2019