Wiener ForscherInnen schreiben tibetische Philosophiegeschichte
Die Yoga- und Meditationstechniken der Mahamudra stoßen seit einiger Zeit weltweit auf großes Interesse. „In der intellektuellen Geschichte Tibets nahmen diese Traditionen eine wesentliche Rolle ein“, erklärt Klaus-Dieter Mathes von der Universität Wien. Seit 2012 untersucht der Tibetologe im Rahmen eines Forschungsprojekts des Wissenschaftsfonds FWF wichtige Werke einflussreicher Meister des tibetischen Buddhismus und leistet so wertvolle Grundlagenarbeit.
Aufarbeitung überlieferter Geschichte
Die wichtigsten Quellen des Wissenschafters sind alte Handschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert, von denen Klaus-Dieter Mathes viele in den 1990er Jahren als damaliger Leiter des Nepal Research Centre vor Ort recherchiert und auf Mikrofilm gesichert hat. Seit dem Exil sind einige dieser jahrhundertealten Texte nur noch in den tibetischen Enklaven im Norden Nepals zugänglich. In enger Zusammenarbeit mit Indologen, Buddhologen und tibetischen Gelehrten hat ein Team um Mathes nun tibetisch buddhistische Werke identifiziert, kritisch ediert und – soweit vorhanden – mit indischen Originalen verglichen. Da bislang weder eine systematische Analyse der Texte über Mahamudra erfolgt ist, noch der Versuch unternommen wurde, die Entwicklung und die komplexe Beziehung dieser Lehre zu früheren Strömungen im indischen Buddhismus zu untersuchen, liefern die Studien einen wichtigen Beitrag zur Religions- und Philosophiegeschichte Tibets.
Leerheit als zentrale buddhistische Weltsicht
Der Begriff „Mahamudra“ kommt aus dem Sanskrit und heißt wörtlich übersetzt „großes Siegel“. „Siegel“ steht für die Leerheit oder Abwesenheit von inhärenter Existenz. Als wahre Natur aller Gegebenheiten ist es groß. Die Erkenntnis der Leerheit geht mit einer großen Glückseligkeit einher. Mahamudra steht damit auch für die Vereinigung von Glückseligkeit und Leerheit der Buddhas. „Wir haben untersucht, wie in dem Zeitraum der post-klassischen Ära des Buddhismus Leerheit und abhängiges Entstehen interpretiert werden“, erklärt Mathes. Diese beiden zentralen Aspekte bedingen einander. In der buddhistischen Lehre bedeutet abhängiges Entstehen, dass die Welt ein System von dynamischen Wechselwirkungen ist. Alles besteht nur in Relation zu anderem. Das Ich verliert folglich an Bedeutung.
Buddha-Natur – das Potenzial aller Wesen
Daraus wiederum erschließt sich die Leerheit. Denn erst die Abwesenheit inhärenter Existenz, also die Leere von eigener Natur, ermöglicht, dass die Dinge überhaupt miteinander in Wechselwirkung treten können. Die Erkenntnis der Leerheit geht mit der Realisation der wahren Natur des eigenen Geistes oder der sogenannten Buddha-Natur einher. Obwohl die Eigenschaften Buddhas, grenzenlose Liebe und Weisheit, seit jeher mit dem Persönlichkeitsstrom eines jeden Lebewesens verbunden sind, kann dies aufgrund äußerlicher geistiger „Befleckungen“ wie etwa Unwissenheit, Begierde oder Hass üblicherweise nicht erkannt werden. Für die Verwirklichung dieser Buddha-Natur wird gerne das Bild vom aufgewühlten Wasser herangezogen, das dreckig erscheint. Durch die Praxis der Meditation setzt sich der Dreck und die Klarheit des Wassers tritt hervor. In diesem Zusammenhang spricht man von der „Leerheit von Anderem“, das bedeutet, dass die Buddha-Natur leer von den äußerlichen Verunreinigungen ist und diese die wahre Natur des Geistes nicht berühren.
Hochblüte der Mahamudra-Tradition
Diese auf Mahamudra beruhende Philosophie wurde vom 15. und 16. Jahrhundert an systematisch vor allem in den Bka’ brgyud-Schulen des tibetischen Buddhismus vertreten. Zu der Zeit verfügten die Bka’ brgyud pas über wirtschaftliche und politische Macht. In Zentraltibet stellten sie zeitweise die Herrscher. „In dieser Periode gab es sehr viel Dialog und Austausch zwischen verschiedenen Schulrichtungen“, so Mathes. „Dabei wurde auf hohem Niveau über verschiedene Formen von Leerheit diskutiert.“ Welche Denkrichtungen es gab und welche Positionen einzelne Autoren vertraten, hat das internationale Team um Mathes in dem Projekt untersucht. Dabei haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter der Universität Wien auch grundlegende philosophisch-religiöse Fragen entschlüsselt, wie diejenige der Relation zwischen dem Profanen und Sakralen. Ab dem 17. Jahrhundert wurden die Bka’ brgyud pas unterdrückt. Damit war auch die Mahamudra-Tradition gefährdet. Den entsprechenden Klosteruniversitäten war die materielle Grundlage entzogen.
Zur Person Klaus-Dieter Mathes forscht und lehrt seit 2010 an der Universität Wien, wo er das Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde leitet. Mathes war zuvor an der Universität Hamburg tätig, unter anderem als Leiter des Nepal Research Centre. Der Tibetologe hat zahlreiche Aufenthalte in Nepal verbracht und besitzt eine wertvolle Sammlung von Handschriften und Blockdrucken des tibetischen Buddhismus.
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