Detailaufnahme eines sehr fein und farbenreich ausgeführten Zierstückes, das ursprünglich auf Leinenstoff aufgenäht war. © Papyrussammlung, ÖNB/Ines Bogensperger

Mit dem Begriff „Patchwork“, einer alten Textiltechnik, bei der (meist) quadratische Stoffreste zusammengenäht werden, können viele etwas anfangen. Man hat sofort ein Bild vor Augen. Würden Wissenschafterinnen und Wissenschafter in ferner Zukunft in überlieferten Texten über den Begriff stolpern, ist jedoch fraglich, ob sie „Patchwork“ mit alten Textilfragmenten verknüpfen könnten. „Allein vom Text her hätten sie wohl kein konkretes Bild davon. Sie würden sich außerdem fragen: Wieso findet sich dieser englische Begriff in deutschen Texten? Was ist das eigentlich?“, erklärt Bernhard Palme, Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien. Mit diesem Beispiel aus der Gegenwart verdeutlicht der Papyrologe, vor welchem Problem er zu Beginn seines aktuellen Forschungsprojekts stand.

Auf getrennten Wegen

In dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt dreht sich alles um die Textilproduktion im spätantiken Ägypten (ca. 300 bis 800 n. Chr.). Bisher wurden Begriff und Objekt stets getrennt voneinander betrachtet. Die Papyrologie widmete sich den Termini in papyrologischen Quellen, während sich die historische Textilkunde mit antiken Textilfragmenten befasste. Die Folge: Die Bedeutung zahlreicher Begriffe blieb unklar und abstrakt. Umgekehrt fehlten der Textilkunde wichtige Informationen über die Textilfragmente, die oft nur handtellergroß sind. Um die Textilverarbeitung der damaligen Zeit besser zu verstehen, hat Projektleiter Palme im Forschungsprojekt „Texte und Textilien im spätantiken Ägypten“ nun eine Brücke zwischen den beiden Disziplinen geschlagen. Das interdisziplinäre Team hoffte, durch die gemeinsame Analyse zu einem besseren Verständnis von Begrifflichkeit, Textilien, Produktion, Materialien und Verwendung zu gelangen.

Verloren gegangene Vielfalt

Die Papyrologie standen noch vor einem anderen Problem: Die Fülle, Bandbreite und Ausdifferenzierung der Begriffe, die noch in den altgriechischen Originalquellen existierte, war verloren gegangen. „Im 19. Jahrhundert, als die meisten Wörterbücher entstanden, haben sich die damaligen Philologen mit der materiellen Kultur nicht so intensiv auseinander gesetzt“, erklärt Palme. In einem der wichtigsten Nachschlagewerke für Altgriechisch existierten etwa noch sechs Termini für Textilarbeiter. In den Übersetzungen wurden alle als „Weber“ betitelt. Dieses Phänomen betrifft nicht nur Berufsbezeichnungen, sondern auch Farben, Produktionsmethoden oder Verwendungszweck. Weil die Textilproduktion damals ein zentraler Wirtschaftszweig war, tauchen die Begriffe in sehr vielen Originalen auf. Etwa im Höchstpreisedikt des römischen Kaisers Diokletian aus dem Jahr 301 n. Chr.: Rund ein Drittel der genannten Produkte stammte aus dem Textilbereich.

Suche nach Treffern

Eine Inventarliste mit zahlreichen hochwertigen Kleidungsstücken des 6. Jh. n. Chr. © Papyrussammlung, ÖNB

Seit 2015 arbeitet Palme mit Ines Bogensperger, Expertin für historische Textilkunde, und der griechischen Papyrologin Aikaterini Koroli zusammen, beide vom Institut für Kulturgeschichte der Antike der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In einer Vielzahl der heute in Online-Datenbanken weltweit verfügbaren publizierten Texte von papyrologischen Originalen haben sie nach bekannten Fachtermini gesucht. Auch viele antike Textilien sind digital zugänglich. Im Forschungsprojekt konzentrierte man sich auf die Textilsammlungen des Museums für angewandte Kunst und der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, der Abegg-Stiftung im schweizerischen Riggisberg und den staatlichen Museen zu Berlin. Denn: Je mehr Kontext, desto klarer wird die Bedeutung. Indem die Expertinnen und Experten vieles auch Wort für Wort durchgingen, kam es zu Neuentdeckungen. „Der Begriff ‚gestempelt‘ ist oft aufgetaucht. Weil es zu der Zeit üblich war, Textilien am Webstuhl oder durch Stickereien zu verzieren, wussten wir nicht, was Stempel hier bedeutet“, erinnert sich Palme. Die Textilexpertin entdeckte einige passende Objekte. Erst die interdisziplinäre Zusammenarbeit brachte hervor, dass es auch schon im byzantinischen Ägypten eine Stempeltechnik gab, womit Textilmuster durch Färbung und nicht nur durch Weben oder Sticken erzielt wurden. Die Forschenden ziehen auch antike Literatur heran: „In der Zusammenschau aller Belegstellen und dem Lesen in verschiedenen Kontexten hofften wir, auch bei problematischen Begriffen genug Aufschlüsse zu erhalten“, so der Papyrologe. Das Matching von Begriff und Objekt führte bei rund 70 Prozent der Fälle zu einer genauen Begriffsklärung.

Praxiswissen integriert

Die antiken Textilfragmente bargen ebenfalls Rätsel. Mit naturwissenschaftlichen Methoden wie der Mikroskopie lässt sich viel, etwa zum Material analysieren. Doch wie funktionierten verschiedene Techniken? Daraus entstand die Idee, mithilfe eines weiteren Projekts „Antike Textilien – Moderne Hände“ das große Fachwissen und die Expertise heutiger Hobbytextilerzeuger einzubeziehen. Das Projekt, das im Rahmen der Initiative Top Citizen Science (TCS) ebenfalls durch den FWF gefördert wird, läuft noch bis August 2019. Ausgewählte antike Textilien und Muster wurden über ein Internetforum (spiraltextile.com) einer globalen Community zugänglich gemacht: Wie erzeugt man das? Wieviel Arbeit steckt dahinter? Was braucht man dafür? Die Praktikerinnen und Praktiker rekonstruierten die Objekte und machten so deren Produktion und Wert nachvollziehbar. Dutzende dieser neuen „Samples“ sollen in einer Wanderausstellung gezeigt werden. All das ergibt heute ein umfassendes Bild von Begriff und Objekt, was in ein Bildlexikon münden soll. Im Unterschied zu Lexika des 19. Jahrhunderts bleibt darin die Vielfalt der Termini erhalten und jedem Begriff steht das passende Objekt gegenüber – sodass neue Bilder im Kopf entstehen können.


Zur Person Bernhard Palme ist seit 2009 Direktor der Papyrussammlung und des -museums der Österreichischen Nationalbibliothek und hält eine Professur für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien. Seine umfassende, international gefragte Expertise brachte er in zahlreichen wissenschaftsrelevanten Funktionen ein. Seit 2012 ist er wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.


Top Citizen Science (TCS) Spiral Textile 2.0 ist eine Crowdsourcing-Plattform, die Experimente zur Textilerzeugung für die Forschung sammelt. Das Projekt wurde von einem alten Spiralmuster auf Papyrus aus der spätrömischen Zeit des Alten Ägypten inspiriert. An dem Projekt nehmen Hobby-Textilkünstler/innen aus der ganzen Welt teil. Förderinitiative Top Citizen Science


Publikationen

I. Bogensperger, Alum in Ancient Egypt: The Written Evidence, in: A. De Moor, C. Fluck, P. Linscheid (Hg.): Excavating, analysing, reconstructing Textiles of the 1st millennium AD from Egypt and neigh-bouring countries. Lanoo 2017
I. Bogensperger, Purple and its Various Kinds in Documentary Papyri, in: S. Gaspa, C. Michel, M.-L. Nosch (Hg.): Textile Terminologies from the Orient to the Mediterranean and Europe 1000 BC – AD 1000, Lincoln 2017, 235-249
I. Bogensperger, How to Order a Textile in Ancient Times? The Step before Distribution and Trade, in: K. Droß-Krüpe & M.-L. Nosch (Hg.): Textiles, Trade and Theories. From the Ancient Near East to the Mediterranean. Kārum – Emporion – Forum 2, Ugarit-Verlag Münster 2016, 259-270 (pdf)