Koalitionsregierungen in Osteuropa sind eher instabil, wie aktuelle Analysen zeigen. Welche Mechanismen ihr Handeln im Vergleich zum Westen Europas prägen, hat ein internationales Forscherteam erstmals untersucht. © Val Vesa/unsplash

Oft markiert der Ruf nach Neuwahlen jenen Punkt, an dem die Koalitionspartner lieber getrennte Wege gehen, als weiter miteinander zu regieren. Die Option „Trennung mit Neuwahl“ ist in Westeuropa aber deutlich öfter anzutreffen als in Mittel-Osteuropa. Ein Befund, den ein Forschungsprojekt ermöglicht, das der Wissenschaftsfonds FWF finanzierte. „In den zehn mittel- und osteuropäischen EU-Ländern, die wir analysierten, ist diese Option unüblich. Dort führen Wahlen häufiger dazu, dass Regierungsparteien abgestraft werden und mitunter sogar aus dem Parlament fliegen. Vorgezogene Neuwahlen sind für die Parteien daher zu riskant und werden vermieden“, erklärt Projektleiter Wolfgang C. Müller, Vorstand des Instituts für Staatswissenschaft der Universität Wien. Koalitionsparteien werden in Osteuropa überaus stark dafür verantwortlich gemacht, wenn ihr Regieren den Erwartungen der Wählerinnen und Wähler nicht entspricht. Gleichzeitig ist für die Parteien eine Regierungsbeteiligung ein Ziel an sich und nötig, um an finanzielle Ressourcen zum Aufbau einer Parteiorganisation zu gelangen. Daher kam es in den untersuchten Ländern eher zum Wechsel von Koalitionspartnern innerhalb einer Legislaturperiode. Im Vergleich zu westeuropäischen Koalitionen haben sie dann häufig eine kürzere Lebensdauer.

Daten aus zehn Ländern

Über die Phase des Regierens war in der Koalitionsforschung bisher generell wenig bekannt. Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts standen somit erstmals die Regierungsphase der jeweiligen Kabinette und die inneren Mechanismen, welche ihr Handeln prägten. Zusammen mit Torbjörn Bergman und Gabriella Ilonszki, sowie unterstützt durch Expertinnen und Experten in zehn mittel- osteuropäischen Ländern, hat Wolfgang C. Müller nämlich den gesamten „Lebenszyklus“ von Koalitionsregierungen betrachtet. Das von ihm mitentwickelte theoretische Modell dazu entstand 2008 und wurde nach West-, nun auch auf Mittel- Osteuropa angewandt. Die zehn untersuchten Länder waren zwischen 2005 und 2007 der EU beigetreten und der Analysezeitraum reichte bis zu den ersten demokratischen Wahlen in den 1990ern zurück: Eine Zeitspanne, die von massiven Veränderungen und Herausforderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen geprägt war. Der Fokus aufs Handeln erforderte zudem auch methodisch eine andere Herangehensweise, um innere Mechanismen zu erkennen. „Es ist uns weitgehend gelungen, in allen Ländern für jedes Kabinett einige Interviewpartner zu finden und so zu Informationen aus erster Hand zu gelangen“, sagt Müller im Gespräch mit scilog. Koalitionsverträge bzw. Dokumente über die Prinzipien der Zusammenarbeit flossen ebenso in den Datensatz ein wie die jeweils nationale Medienberichterstattung über die Regierung. Zudem integrierten die Forschenden offizielle Informationen. Die Analyse dieser Daten zeigt die Dynamik und Struktur der Koalitionssysteme.

Formalia weniger verbindlich

Dabei zeigte sich etwa, dass Koalitionsabkommen im Unterschied zu Westeuropa dort generell weniger Bedeutung haben. „In Osteuropa sind sie zwar formal vorhanden, aber weniger bindend“, präzisiert der Politologe. Weil die Parteiensysteme sehr divergent sind, und Parteien unter starkem Konkurrenzdruck stehen, sind Machtinteressen und Parteiziele meist wichtiger als formale Mechanismen, die das Miteinander regeln. Die Forschenden überraschte zudem, dass jenes Modell, wonach sich die Koalitionsparteien die Ressorts aufteilen und den Ministern quasi freie Hand lassen, „in der Praxis sehr häufig nachweisbar ist. Charakteristisch für das Regierungshandeln ist ein Neben-, statt Miteinander und Instabilität ist ein ausgeprägtes Merkmal.“ Eine Ausnahme in punkto Instabilität bildet Ungarn. Die Koalition unter Premierminister Viktor Orbán ist allerdings ein seltenes Beispiel dafür, dass eine Koalition quasi als Einparteienregierung agiert.

Breite Basis für weitere Forschung

Der Fokus auf das Regierungshandeln schloss eine Lücke, wodurch nun der gesamte Lebenszyklus von Koalitionen analysierbar ist. Der umfassende Datensatz erlaubt zudem erstmals fundierte Vergleiche zwischen West- und Osteuropa und das Aufzeigen von Länderspezifika. Eine systematische Darstellung der Lebenszyklen von Koalitionen in Mittel-Osteuropa erfolgt in einem im Erscheinen befindlichen Buch. Zeitgleich wird das Forschungsteam die quantitativen Daten   auch der Öffentlichkeit zugänglich machen. Die in dem Grundlagenprojekt gewonnenen Erkenntnisse tragen jedenfalls wesentlich dazu bei, besser zu verstehen, was das Handeln einer Regierungskoalition prägt. Wie gut oder schlecht kooperiert wird, wie Konflikte gelöst und Entscheidungen getroffen werden, bleibt nämlich nie ohne Folgen und beeinflusst nicht zuletzt auch die politische Stabilität und Leistungsfähigkeit von Staaten.


Zur Person  Wolfgang C. Müller ist Politikwissenschaftler sowie Professor für „Democratic Governance“ und Leiter des Instituts für Staatswissenschaft der Universität Wien. Er war u.a. Direktor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung und leitet seit 2017 das Vienna Center of Electoral Research (VieCER). Koalitionspolitik ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Gemeinsam mit Kaare Strøm und Torbjörn Bergman hat er 2008 das Modell des „Democratic Life Cycle“ entwickelt.


Publikationen

Bergman, Torbjörn, Gabriella Ilonszki & Wolfgang C. Müller (Hg.): Coalition Governance in Central Eastern Europe. Oxford University Press (erscheint 2020)
Ecker, Alejandro, Thomas M. Meyer & Wolfgang C. Müller: The Distribution of Individual Cabinet Positions in Coalition Governments. European Journal of Political Research 2015
Müller, Wolfgang C., Torbjörn Bergman & Kaare Strøm: Coalition Theory and Cabinet Governance: An Introduction, in: Kaare Strøm, Wolfgang C. Müller & Torbjörn Bergman (Hg.): Cabinets and Coalition Bargaining: The Democratic Life Cycle in Western Europe. Oxford University Press 2008