Wie koaliert man (richtig)?
Oft markiert der Ruf nach Neuwahlen jenen Punkt, an dem die Koalitionspartner lieber getrennte Wege gehen, als weiter miteinander zu regieren. Die Option âTrennung mit Neuwahlâ ist in Westeuropa aber deutlich öfter anzutreffen als in Mittel-Osteuropa. Ein Befund, den ein Forschungsprojekt ermöglicht, das der Wissenschaftsfonds FWF finanzierte. âIn den zehn mittel- und osteuropĂ€ischen EU-LĂ€ndern, die wir analysierten, ist diese Option unĂŒblich. Dort fĂŒhren Wahlen hĂ€ufiger dazu, dass Regierungsparteien abgestraft werden und mitunter sogar aus dem Parlament fliegen. Vorgezogene Neuwahlen sind fĂŒr die Parteien daher zu riskant und werden vermiedenâ, erklĂ€rt Projektleiter Wolfgang C. MĂŒller, Vorstand des Instituts fĂŒr Staatswissenschaft der UniversitĂ€t Wien. Koalitionsparteien werden in Osteuropa ĂŒberaus stark dafĂŒr verantwortlich gemacht, wenn ihr Regieren den Erwartungen der WĂ€hlerinnen und WĂ€hler nicht entspricht. Gleichzeitig ist fĂŒr die Parteien eine Regierungsbeteiligung ein Ziel an sich und nötig, um an finanzielle Ressourcen zum Aufbau einer Parteiorganisation zu gelangen. Daher kam es in den untersuchten LĂ€ndern eher zum Wechsel von Koalitionspartnern innerhalb einer Legislaturperiode. Im Vergleich zu westeuropĂ€ischen Koalitionen haben sie dann hĂ€ufig eine kĂŒrzere Lebensdauer.
Daten aus zehn LĂ€ndern
Ăber die Phase des Regierens war in der Koalitionsforschung bisher generell wenig bekannt. Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts standen somit erstmals die Regierungsphase der jeweiligen Kabinette und die inneren Mechanismen, welche ihr Handeln prĂ€gten. Zusammen mit Torbjörn Bergman und Gabriella Ilonszki, sowie unterstĂŒtzt durch Expertinnen und Experten in zehn mittel- osteuropĂ€ischen LĂ€ndern, hat Wolfgang C. MĂŒller nĂ€mlich den gesamten âLebenszyklusâ von Koalitionsregierungen betrachtet. Das von ihm mitentwickelte theoretische Modell dazu entstand 2008 und wurde nach West-, nun auch auf Mittel- Osteuropa angewandt. Die zehn untersuchten LĂ€nder waren zwischen 2005 und 2007 der EU beigetreten und der Analysezeitraum reichte bis zu den ersten demokratischen Wahlen in den 1990ern zurĂŒck: Eine Zeitspanne, die von massiven VerĂ€nderungen und Herausforderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen geprĂ€gt war. Der Fokus aufs Handeln erforderte zudem auch methodisch eine andere Herangehensweise, um innere Mechanismen zu erkennen. âEs ist uns weitgehend gelungen, in allen LĂ€ndern fĂŒr jedes Kabinett einige Interviewpartner zu finden und so zu Informationen aus erster Hand zu gelangenâ, sagt MĂŒller im GesprĂ€ch mit scilog. KoalitionsvertrĂ€ge bzw. Dokumente ĂŒber die Prinzipien der Zusammenarbeit flossen ebenso in den Datensatz ein wie die jeweils nationale Medienberichterstattung ĂŒber die Regierung. Zudem integrierten die Forschenden offizielle Informationen. Die Analyse dieser Daten zeigt die Dynamik und Struktur der Koalitionssysteme.
Formalia weniger verbindlich
Dabei zeigte sich etwa, dass Koalitionsabkommen im Unterschied zu Westeuropa dort generell weniger Bedeutung haben. âIn Osteuropa sind sie zwar formal vorhanden, aber weniger bindendâ, prĂ€zisiert der Politologe. Weil die Parteiensysteme sehr divergent sind, und Parteien unter starkem Konkurrenzdruck stehen, sind Machtinteressen und Parteiziele meist wichtiger als formale Mechanismen, die das Miteinander regeln. Die Forschenden ĂŒberraschte zudem, dass jenes Modell, wonach sich die Koalitionsparteien die Ressorts aufteilen und den Ministern quasi freie Hand lassen, âin der Praxis sehr hĂ€ufig nachweisbar ist. Charakteristisch fĂŒr das Regierungshandeln ist ein Neben-, statt Miteinander und InstabilitĂ€t ist ein ausgeprĂ€gtes Merkmal.â Eine Ausnahme in punkto InstabilitĂ€t bildet Ungarn. Die Koalition unter Premierminister Viktor OrbĂĄn ist allerdings ein seltenes Beispiel dafĂŒr, dass eine Koalition quasi als Einparteienregierung agiert.
Breite Basis fĂŒr weitere Forschung
Der Fokus auf das Regierungshandeln schloss eine LĂŒcke, wodurch nun der gesamte Lebenszyklus von Koalitionen analysierbar ist. Der umfassende Datensatz erlaubt zudem erstmals fundierte Vergleiche zwischen West- und Osteuropa und das Aufzeigen von LĂ€nderspezifika. Eine systematische Darstellung der Lebenszyklen von Koalitionen in Mittel-Osteuropa erfolgt in einem im Erscheinen befindlichen Buch. Zeitgleich wird das Forschungsteam die quantitativen Daten auch der Ăffentlichkeit zugĂ€nglich machen. Die in dem Grundlagenprojekt gewonnenen Erkenntnisse tragen jedenfalls wesentlich dazu bei, besser zu verstehen, was das Handeln einer Regierungskoalition prĂ€gt. Wie gut oder schlecht kooperiert wird, wie Konflikte gelöst und Entscheidungen getroffen werden, bleibt nĂ€mlich nie ohne Folgen und beeinflusst nicht zuletzt auch die politische StabilitĂ€t und LeistungsfĂ€higkeit von Staaten.
Zur Person Wolfgang C. MĂŒller ist Politikwissenschaftler sowie Professor fĂŒr âDemocratic Governanceâ und Leiter des Instituts fĂŒr Staatswissenschaft der UniversitĂ€t Wien. Er war u.a. Direktor des Mannheimer Zentrums fĂŒr EuropĂ€ische Sozialforschung und leitet seit 2017 das Vienna Center of Electoral Research (VieCER). Koalitionspolitik ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Gemeinsam mit Kaare StrĂžm und Torbjörn Bergman hat er 2008 das Modell des âDemocratic Life Cycleâ entwickelt.
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