Wie die Mathematik zu dem wurde, was sie heute ist

Mathematik ist insofern eine besondere Wissenschaft, als nicht ganz klar ist, wovon sie eigentlich handelt. Wie real mathematische GegenstĂ€nde sind und welche Bedeutung diese Frage hat, beschĂ€ftigt Menschen seit der Antike. Um Mathematik zu betreiben, genĂŒgt es, gewisse Eigenschaften mathematischer GegenstĂ€nde, etwa der NatĂŒrlichen Zahlen, mittels einiger einfacher Aussagen â Axiome genannt â festzulegen. Doch damit ist noch nicht erklĂ€rt, was Zahlen eigentlich sind. Heute ist eine Auffassung verbreitet, die sich âStrukturalismusâ nennt: Danach definieren die Axiome selbst die mathematischen GegenstĂ€nde â, wer die Axiome kennt, weiĂ genug. Mathematik handelt demnach nicht von Zahlen, sondern von abstrakten Strukturen. Was wie eine Spitzfindigkeit klingt, hatte nicht nur groĂen Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik selbst, sondern auch auf die modernen Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert, die heute unser Leben prĂ€gen. Eine Gruppe um den Philosophen Georg Schiemer vom Institut fĂŒr Philosophie der UniversitĂ€t Wien untersuchte nun, wie diese Auffassung entstand. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt verfolgte man die UrsprĂŒnge des Strukturalismus zurĂŒck bis in die erste HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts und fand unter anderem Verbindungen zu Rudolf Carnap und dem Wiener Kreis.
Axiome als Definitionen
âEin Fokus des Projekts lag auf der Geschichte der Mathematik im 19. und Anfang des 20. Jahrhundertsâ, sagt Projektleiter Georg Schiemer. âWir haben versucht, bestimmte Entwicklungen in der Geometrie des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen, die zu einer strukturellen Wende gefĂŒhrt haben.â UrsprĂŒnglich hĂ€tten Axiome den Sinn gehabt, bekannte GegenstĂ€nde zu beschreiben â reale oder imaginĂ€re. âDie Entwicklung ging hin zu einer Idee von Axiomensystemen als implizite Definitionen von abstrakten Strukturen.â âImplizitâ bedeutet hier, dass allein die Axiome die GegenstĂ€nde erklĂ€ren. âDas war der Schritt von einer beschreibenden Auffassung hin zu einem VerstĂ€ndnis von Axiomen als Definitionenâ, schildert Schiemer im GesprĂ€ch mit scilog. Daran beteiligt waren die deutschen Mathematiker David Hilbert und Richard Dedekind sowie die Gruppe um den Italiener Guiseppe Peano. Sie untersuchten unter anderem, wie man die Konsistenz oder UnabhĂ€ngigkeit von Axiomen feststellen kann.
Geburtsstunde moderner Disziplinen
UrsprĂŒnglich waren Axiome also dazu da, etwas als bekannt Angenommenes abzubilden. War die Abbildung richtig, so stellte sich die Frage nach der Konsistenz der Axiome nicht. Hilbert und seine Kollegen wollten wissen, wie man die Konsistenz oder UnabhĂ€ngigkeit von Axiomen rein formal nachweisen konnte. So wurde es möglich, Axiome aufzustellen, und sich erst danach zu fragen, was sie eigentlich beschreiben. âDas war die Geburtsstunde moderner Disziplinen, die heute im Bereich der Logik oder mathematischen Logik untergebracht sind, insbesondere der Modelltheorie und Beweistheorieâ, erklĂ€rt Schiemer. David Hilbert war es auch, der einige Jahrzehnte spĂ€ter sein berĂŒhmtes âProgrammâ formulierte, wo er forderte, die Mathematik auf eine solide Grundlage zu stellen, indem man die Widerspruchsfreiheit aller Axiome beweist. Das Unterfangen scheiterte bekanntlich, bereitete aber den Weg fĂŒr die mathematische Logik, der wir nicht nur ein tieferes VerstĂ€ndnis der Mathematik, sondern auch das Konzept des Computers verdanken. âDas Hilbert-Programm baut direkt auf diesen frĂŒheren Arbeiten aufâ, betont Schiemer.
Strukturalismus in der Philosophie
âDer zweite Bereich, den wir uns in dem Projekt angesehen haben, war, wie die Philosophen im frĂŒhen 20. Jahrhundert diese Entwicklungen in der Mathematik im 19. Jahrhundert reflektiert habenâ, sagt Schiemer. âDer Strukturalismus ist in dieser zeitgenössischen Philosophie der Mathematik die dominante Position.â Schiemer verweist hier vor allem auf Rudolf Carnap, einen wichtigen Vertreter des Wiener Kreises, der nach einer Philosophie mit exakten Methoden gesucht hat. âCarnap hat in den 1920er- und 1930er-Jahren sehr intensiv ĂŒber diese Entwicklungen der Mathematik nachgedacht.â Auch der Philosoph Ernst Cassirer war hier aktiv. Carnap und Cassirer nahmen damit vorweg, was heute als natĂŒrliche Auffassung von Mathematik gilt. âDie Grundthese des Strukturalismus findet sich eben schon im frĂŒhen 20. Jahrhundert in der Philosophieâ, sagt Georg Schiemer.
Eine Arbeitsgruppe fĂŒr Strukturalismus
âWas wir versucht haben, ist, historisch zu erklĂ€ren und philosophisch zu analysieren, wie Mathematik zu dem wurde, was sie heute istâ, sagt Schiemer. Die Arbeit an dem FWF-Projekt half dem Philosophen, einen ERC-Starting-Grant der EuropĂ€ischen Kommission an Land zu ziehen und sich eine interdisziplinĂ€re Forschungsgruppe zu diesem Thema aufzubauen, mit der er diese Arbeit weiterfĂŒhrt.
Zur Person Georg Schiemer forscht als Assistenzprofessor am Institut fĂŒr Philosophie der UniversitĂ€t Wien sowie als âExternal Memberâ am Munich Center for Mathematical Philosophy (MCMP). Er interessiert sich fĂŒr die Geschichte der Logik, analytische Philosophie und Philosophie der Mathematik. Er war Erwin-Schrödinger-Stipendiat des FWF.
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