Widerstandserinnerung im Wandel
Widerstand hat viele Facetten – nationale wie transnationale. Wenn heuer der 75. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs begangen wird, schließt das auch das Erinnern an Widerstandskämpfer mit ein, die sich gegen das NS-Regime auflehnten und in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Doch wie wurde und wird an Widerstand erinnert? „In der von den westeuropäischen Nationalstaaten propagierten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg stand nach 1945 der heroische Widerstand gegen die deutschen Besatzer im Zentrum“, erklärt Maximilian Becker von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dieses „Widerstandsgedächtnis“ dominierte die sogenannten Erinnerungskulturen sowohl von Einzelnen als auch einer Gesellschaft insgesamt. Sie sind bis heute Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses. Die Erinnerungskulturforschung hat jedoch Defizite, wie der Historiker erklärt: „Zum einen wird sie meist rein national betrieben, und zum anderen werden nicht-staatliche Akteure kaum berücksichtigt.“ So verwundert es nicht, dass die internationale Dachorganisation von Verbänden antifaschistischer Widerstandskämpfer, die „Internationale Föderation der Widerstandskämpfer“ (Fédération Internationale des Résistants, kurz FIR) bis dato unerforscht war. Zunächst im Februar 1946 als Fédération Internationale des Anciens Prisonniers Politiques (FIAPP) in Warschau gegründet, übersiedelte die FIAPP schon 1951 nach Wien, wo es zur Neugründung als FIR kam. 2004 zog die FIR schließlich nach Berlin um.
Vergessener Impulsgeber?
Über die ersten Jahrzehnte nach der Gründung bringt die wissenschaftliche Aufarbeitung nun einiges ans Licht: So stieß die Organisation etwa bedeutende geschichtspolitische Initiativen wie den Internationalen Befreiungstag am 11. April an, den Tag der Befreiung des KZ Buchenwald, veröffentlichte Ende der 1950er-Jahre eine Fachzeitschrift zur Widerstandsgeschichte, gab Anstöße zu ihrer Vermittlung im Unterricht und informierte in Ausstellungen über den facettenreichen Widerstand in Europa. Trotzdem sei sie heute weitgehend in Vergessenheit geraten, so Becker. Jenseits von politisch links orientierten Medien wie der „taz“ werde die Föderation im deutschsprachigen Raum heute kaum mehr wahrgenommen. Das war jedoch nicht immer so. „Im Kalten Krieg waren die Vertreter nationaler Verfolgtenverbände in den Gremien der FIR zu 80 bis 90 Prozent kommunistische Parteifunktionäre. Diese Überrepräsentation führte dazu, dass die FIR im Westen als kommunistische, moskauhörige Tarnorganisation verschrien war“, erläutert Becker. Dieses negative Image wurde durch anti-kommunistische Verfolgtenverbände befeuert, wie der Internationalen Vereinigung des Widerstands und der Deportation (UIRD). Die FIR hat jedoch die sinnstiftenden Narrative rund um Widerstand maßgeblich beeinflusst. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt setzt sich Maximilian Becker nun erstmals intensiv mit diesem nicht-staatlichen Akteur und den Verfolgten auseinander.
Diskurse über Widerstand im Fokus
Dies wirft eine Vielzahl und Bandbreite an Fragen auf, wie zum Beispiel: Welches Narrativ von Widerstand prägte die FIR? Wie vernetzt waren die Verfolgten? Welche Rolle spielte die FIR im Kalten Krieg? Welche Haltung hatte sie zu Juden? Wie reagierte sie auf Rechtsextremismus? Die zentralen Quellen sind die Protokolle der Gremiensitzungen von 1946 bis 1991, Tätigkeitsberichte sowie die monatlich erscheinende Verbandszeitschrift „Der Widerstandskämpfer“. Teile der Überlieferung der FIR und ihrer Vorgängerorganisation sowie deren Bibliothek befinden sich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, auch in der Österreichischen Nationalbibliothek und der Bibliothek der Arbeiterkammer sind manche ihrer zahlreichen Publikationen vorhanden. Seine Forschung führte Becker auch an etlichen ausländischen Archiven und Bibliotheken durch und bezog diverse Zeitungen sowie Autobiografien mit ein. Alles in allem hat er bisher mehr als 8.000 Seiten Archivmaterial ausgewertet. Neu ist zudem, dass Becker die Methode der „Diskursanalyse“ in der Erinnerungskulturforschung anwendet. Damit macht der Geschichtsforscher die Diskurse über Widerstand und ihren Wandel an Begriffen wie Einheit, Widerstand, Freiheit, Faschismus und Anti-Faschismus fest.
Widerstandserinnerung wird transnational
Was das Narrativ der Widerstandserinnerung betrifft, war der Gründungskongress der FIR im Jahr 1951 zentral. Viele Teilnehmende thematisierten in ihren Reden den Widerstand. „Vorher spielte die Erinnerung in den Stellungnahmen kaum eine Rolle. Eine gemeinsame Erzählung tauchte erstmals in der Ansprache des damaligen Präsidenten der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer auf, dem ehemaligen KZ-Inhaftierten Henri Manhès“, sagt Becker. Im Mittelpunkt standen nicht die individuellen Widerstandserfahrungen, sondern vermeintlich allgemeingültige Aussagen, etwa dass das gesamte Volk gegen die NS-Besatzer Widerstand geleistet hat und dass die Widerstandsbewegung eine Einheit bildete, die alle europäischen Nationen und Völker, sozialen Schichten und (fast) alle Parteien verband. Das gesamteuropäische Narrativ der FIR zu Widerstand generierte einerseits Identität, blendete jedoch Konflikte zwischen Widerstandsgruppen und nationale Besonderheiten teils aus. „Der transnationale Widerstandsmythos war der kleinste gemeinsame Nenner der unterschiedlichen nationalen Erinnerungen“, erklärt Becker. Die Vorstellung vom Widerstand des ganzen Volkes wurde ab 1959 relativiert: Auf Kongressen und in der eigenen Fachzeitschrift der FIR hieß es nun vielmehr, dass das Volk die Partisanen unterstützte.
Wo wurde hin-, wo weggeschaut?
„Ab den frühen 1960ern ist ein starker Rückgang feststellbar, was die Rolle von Erinnerung bei der FIR betraf. Das hatte mehrere Gründe. Entscheidend war die verstärkte Ideologisierung von Erinnerung im kommunistischen Osteuropa“, so der Historiker. Im Zuge des Kalten Krieges sollten die mehrheitlich kommunistischen nationalen Vertreter der Verfolgtenverbände die FIR ideologisch „auf Linie“ bringen. So wusste die FIR etwa von der militärischen Aufrüstung in der ehemaligen DDR, hat jedoch im Unterschied zu anti-kommunistischen Verfolgtenverbänden nicht darauf reagiert. Wie einflussreich und international gut vernetzt die Überlebenden waren und es über den Eisernen Vorhang hinweg blieben, ist das wohl überraschendste Ergebnis, so Becker, der sich erstmals mit ihnen in seinem Grundlagenprojekt befasst. Der neue Standort Wien, wo die Räumlichkeiten der FIR in einem Gebäude in der Castellezgasse im 2. Bezirk untergebracht war, erleichterte den Kontakt zwischen Ost- und Westeuropa. Anhand des Archivmaterials lässt sich nun auch rekonstruieren, wie etwa die Haltung zu jüdischen Verfolgten war, die ebenfalls in der FIR vertreten waren. „Die FIR hat beispielsweise auf die antisemitische Kampagne in Polen 1968 nicht reagiert und auch nicht humanitär unterstützt als polnische Juden, darunter auch ehemalige hochrangige Funktionäre der FIR, zur Emigration gezwungen wurden“, so Becker. Der Widerstand gegen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus zieht sich hingegen bis heute als roter Faden durch die Geschichte der FIR. Widerstand ist nach wie vor Identitätsstifter, sowohl für die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs als auch für aktuelle Widerstandsbewegungen wie „Black Lives Matter“, an der auch die FIR beteiligt ist. Die Erforschung eines nicht-staatlichen Akteurs macht nun neue Facetten europäischer Widerstandserinnerung sichtbar.
Zur Person Maximilian Becker ist Historiker am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Das Institut hat sich als wissenschaftliches Zentrum für kollektive Erinnerung und Identität etabliert. Seine wissenschaftliche Laufbahn führte den gebürtigen Deutschen auch nach Warschau und Moskau. Für das Projekt „Überlebende des Widerstands im Nachkriegseuropa“ (2019-2021) erhielt Becker eine Förderung des FWF im Rahmen des Mobilitätsprogramms Lise-Meitner.
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