Die Eule als Sinnbild für Weisheit: Die Psychologin Judith Glück ist seit Jahrzehnten den Prinzipien eines gelingenden Lebens auf der Spur. © Daniel Waschnig

Ein Blick auf überlieferte Zitate berühmter Persönlichkeiten bezeugt: Was gemeinhin unter „Weisheit“ verstanden wird, variiert je nach Person, Erfahrung und Epoche. Weisheit findet sich aber auch in zwischenmenschlichen Beziehungen: Familienmitglieder, Partnerinnen und Partner, Freunde, Bekannte, sogar Nachbarn können als „weise“ wahrgenommen werden. Dann nämlich, wenn sie „einen kritischen Input geben und neue Perspektiven aufzeigen, wenn jemand ansteht“, erklärt die Entwicklungspsychologin Judith Glück vom Institut für Psychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Genau dieser Aspekt sei bei vielen der so genannten „Weisheits­nominierten“ in der weltweit ersten Langzeitstudie zur Entwicklung von Weisheit der Fall gewesen. Konkret wurden der Forscherin 19 Personen empfohlen, die Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld als weise betrachten. Die restlichen der insgesamt 155 Teilnehmenden haben eine Einladung zur Studienteilnahme angenommen.

Weisheitsforschung ist junges Feld

Das Team rund um Judith Glück hat sich im Rahmen des Forschungsprojekts „Lebensereignisse, Ressourcen und Weisheit“, das der Wissenschaftsfonds FWF förderte, intensiv mit Weisheitsentwicklung befasst: Wie entsteht sie und warum? Wie interagieren Faktoren wie Lebensereignisse, Ressourcen und Erfahrungen? „Weisheit ist hochkomplex und methodisch schwierig zu erheben. Wir sind die ersten, die sich das über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg anschauen“, sagt Glück im Gespräch mit scilog. Die dafür nötige theoretische Grundlage, ein Entwicklungsmodell von Weisheit („MORE Life Experience Model“) hat sie 2014 konzipiert. Dass die Längsschnittstudie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt angesiedelt ist, ist jedoch kein Zufall. Schon seit 2008 gibt es dort den Forschungsschwerpunkt „Weisheitsforschung“, der durch Projektmittel vom FWF und der Universität Chicago unterstützt wurde.

Ohne Emotion keine Weisheit

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Definition von Weisheit stark verändert. Anfangs sei man von einem stabilen Weisheitskonzept ausgegangen, wonach eine weise Person immer entsprechend handelt. Liegt der Fokus jedoch bei Weisheitsentwicklung, zeigt sich, dass Weisheit dynamisch und situationsabhängig ist. „Warum eine Person mal weise handelt und mal nicht, hängt davon ab, ob sie ihr Wissen, was weise ist, in der Situation abrufen und nutzen kann“, erklärt die Forscherin. Für den Zugang zu Wissen spielt die innere Haltung dem Leben gegenüber eine zentrale Rolle, wofür wiederum bestimmte emotionale Ressourcen ausschlaggebend sind. Laut MORE-Modell sind das Emotionsregulation, Offenheit, Selbstreflexion, Empathie (speziell in Konfliktsituationen) und die Fähigkeit, mit Unkontrollierbarkeit umzugehen („Mastery“). Ist beispielsweise bei einer Person die Emotionsregulation schlecht ausgebildet, kann sie in einer emotional fordernden Situation auf ihr weisheitsbezogenes Wissen nicht zugreifen. Dass dieser Zusammenhang zwischen Wissen (Kognition) und innerer Haltung (Emotion) existiert, ließ sich anhand der ersten beiden Erhebungswellen im Rahmen der Langzeitstudie empirisch belegen. Bei denjenigen, deren Ressourcen besser ausgebildet sind, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie auf ihr Wissen zugreifen können. Dies verdeutlicht, wie wichtig die Integration von Kognition und Emotion sowohl für weises Verhalten, als auch für die Entwicklung von Weisheit ist.

Nachdenken hilft

Um wissenschaftlich fundiert zu beantworten, was und wer weise ist, hat eine konkrete Handlung in Situation X wenig Bedeutung. „Es geht nicht darum, was jemand getan hat, sondern um die Art, wie darüber nachgedacht wird. Weisheit zeigt sich für die Forschung am ehesten dann, wenn Personen über ihr Leben beziehungsweise von schwierigen Ereignissen und Konflikten erzählen“, sagt Glück. Aktuell werten die Forschenden die dritte Erhebungswelle aus. Die 155 Teilnehmenden leben in Kärnten und sind zwischen 22 und 89 Jahre alt. Nach einem ersten, intensiven Interview zu Beginn werden sie über den Zeitraum von 20 Jahren jährlich befragt. Glück gibt jedoch zu bedenken, dass es sich dabei um Menschen handelt, die selbstreflektierter sind als andere. Steht das Nachdenken über Ereignisse im Mittelpunkt, wird es möglich, Vergleiche zu ziehen – auch wenn die Lebensereignisse unterschiedlich sind. Als solche definiert die Forscherin etwas, was „das Bisherige positiv oder negativ infrage stellt und eine Neuorientierung notwendig macht“. Diese Situationen bergen besonders viel Potenzial, um weiser zu werden. Sowohl deren Spektrum, als auch ihre Häufigkeit überraschten dennoch: Nach dem ersten Jahr haben 64 von 101 Teilnehmenden von mindestens einem und ein Drittel gar von mehr als drei Ereignissen berichtet, die sie im Jahr davor prägten.

Miteinander statt alleine

Dass Weisheit mit dem Alter generell zunimmt, ist hingegen ein Mythos. Was sich aber zeigte: Die Weisen unter den über 60-Jährigen haben ihre emotionalen Ressourcen aktiv genutzt, um viel aus Lebenserfahrungen zu lernen. Letztlich zeigt auch dieser Befund, dass die emotionalen Ressourcen mehr Einfluss auf die Weisheitsentwicklung haben, als das biologische Alter und sich im Wechselspiel mit Lebensereignissen auch weiterentwickeln, was wiederum die Dynamik von Weisheit erklärt. Die Einsicht, nicht alles im Leben unter Kontrolle zu haben (Mastery-Ressource), entwickelt sich dennoch meist erst ab einem gewissen Alter. „Wirklich weise sein, heißt auch, zu wissen, wie wichtig andere Menschen sind und sich im Bedarfsfall an sie zu wenden“, sagt Glück abschließend. Anstatt Probleme immer allein lösen zu wollen, ist es also durchaus richtig und wichtig, sich Unterstützung zu suchen – nicht zuletzt, um selbst ein Stückchen weiser zu werden.


Zur Person Judith Glück ist Entwicklungspsychologin mit langjährigem Fokus auf die Erforschung von Weisheit. Seit 2007 hat sie den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie an der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt inne. Sie ist Mitherausgeberin des „Cambridge Handbook of Wisdom“, das 2019 erscheint.


Publikationen

Weststrate, N. M., & Glück, J.: Hard-earned wisdom: Exploratory processing of difficult life experience is positively associated with wisdom, in: Developmental Psychology, 53, 800-814, 2017
Judith Glück: Weisheit. Die 5 Prinzipien des gelingenden Lebens, Kösel-Verlag, München 2016
J. Glück & S. Bluck: The MORE Life Experience Model: A theory of the development of personal wisdom, in M. Ferrari & N. Westrate (Eds.), The Scientific Study of Personal Wisdom (pp. 75-98). New York: Springer 2014