Haben die Wiener Orchester tatsĂ€chlich einen eigenen Sound? Das Projekt âSignature Sound Viennaâ (2021-2024) hat moderne Analysetools fĂŒr die gesammelten Aufnahmen der Neujahrskonzerte entwickelt.
Walzerhimmel unter der Lupe

Wenn die Wiener Philharmoniker beim Neujahrskonzert âAn der schönen blauen Donauâ von Johann Strauss Sohn anstimmen, ist das fĂŒr viele Menschen ein GĂ€nsehautmoment. Nach AusflĂŒgen in seltener gespieltes Repertoire kehrt das Orchester in seinem jĂ€hrlichen Konzertritual immer wieder zu den groĂen Dauerbrennern zurĂŒck: dem Donauwalzer, dem Radetzkymarsch (Johann Strauss Vater), dem Kaiserwalzer (ebenfalls Sohn) und vielen weiteren Fixpunkten. Diese Wiederkehr macht auch einen charakteristischen Wiener Stil fĂŒr das Publikum einprĂ€gsam. Greifbar wird dieser fĂŒr viele etwa durch den behutsamen und spannungsreichen Aufbau des Donauwalzers mit den charakteristischen Verzögerungen und markanten Tempiwechseln, die die Melodie zum schwungvollen Walzertraum machen.
Das Konzert der Wiener Philharmoniker am Neujahrstag fand erstmals 1941 statt. In den mehr als acht Jahrzehnten seiner Existenz ist eine Vielzahl von Interpretationen zustande gekommen. Man kann die Konzertaufnahmen als eine Daten-Zeitreihe betrachten, die ĂŒber den Wandel eines Wiener musikalischen Stils Aufschluss gibt. Wie haben sich die Charakteristika des Klangs der Wiener Philharmoniker entwickelt? Welche neuen Aspekte haben verschiedene Dirigenten eingebracht? Das vom Wissenschaftsfonds FWF unterstĂŒtzte Projekt âSignature Sound Viennaâ soll helfen, diese und viele andere Fragen einer musikwissenschaftlichen Interpretationsforschung einfacher zu beantworten. Der Musikinformatiker David M. Weigl und die Musikwissenschaftlerin Chanda VanderHart von der UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) entwickeln darin mit Kolleg:innen ein Set von Werkzeugen, die einen groĂen musikalischen Korpus besser vergleichbar machen. Gleichzeitig bauen sie eine Datenbank zu Aufnahmen des Neujahrskonzerts auf, die als erstes groĂes Anwendungsgebiet der Entwicklung dient.
Schwieriger Ăberblick
âSelbst fĂŒr Musiker:innen und Musikforschende mit sehr gutem musikalischen GedĂ€chtnis ist es eine enorme Herausforderung, eine groĂe Zahl von Interpretationen genau im Kopf zu behaltenâ, veranschaulicht VanderHart die Problematik. âMan versucht sich eine Passage zu merken und sucht das Pendant in der zu vergleichenden Aufnahme â bis man es gefunden hat, sind die Töne im GedĂ€chtnis aber schon wieder verblasst.â Eine zielfĂŒhrende Hilfestellung muss es also einerseits erlauben, mit der Partitur zu interagieren und gewĂŒnschte Stellen auszuwĂ€hlen, andererseits den Ăberblick ĂŒber viele Audioaufnahmen bieten, die den ausgewĂ€hlten Passagen entsprechen.
Diesen Anforderungen entsprechen zwei Softwareprogramme, die im Rahmen des Projekts entwickelt und weiterentwickelt werden. âmei-friendâ, realisiert von Weigl gemeinsam mit dem Programmierer und Musikforscher Werner Goebl, macht Partituren maschinenlesbar. âDas Programm nutzt das Format MEI der Music Encoding Initiative â eine Open-Source-Bewegung zur Codierung von Musik, die sich auch fĂŒr Nutzer:innen in der Wissenschaftscommunity gut eignetâ, erklĂ€rt Weigl. Der Computer âverstehtâ mit der Codierung also die Struktur der Musik und kann sie in einfacher Intonierung auch wiedergeben. Hier kann man nach interessanten Passagen suchen, sie markieren und Annotationen ergĂ€nzen. Diese ErgĂ€nzungen kann man als Webstandard-konforme (Linked Data) Datenstrukturen teilen und fĂŒr andere Programme und Nutzer:innen verfĂŒgbar machen.

Systematisches Vergleichen
Die geteilten Daten können dann in ein weiteres Programm mit Namen âListen Here!â integriert werden, das dem Vergleichshören der Interpretationen dient. Hier wĂ€hlt man aus der Datenbank jene Versionen, die man hören möchte. Die importierten Markierungen aus âmei-friendâ fĂŒhren Nutzer:innen dann direkt zu den gewĂŒnschten Stellen, die in den Audiodateien automatisch erkannt werden. âMan kann also einzelne Notenfolgen oder Motive von Dutzenden Interpretationen beliebig schnell hintereinander anhören und im Detail vergleichenâ, resĂŒmiert Weigl. Mit den frei zugĂ€nglichen Programmen können somit nicht nur einzelne Aspekte genau untersucht, sondern auch groĂe Musiksammlungen auf bestimmte Fragestellungen abgeklopft werden.
Im Rahmen des Projekts wurden die Partituren von zehn StĂŒcken, die Fixpunkte beim jĂ€hrlichen Neujahrskonzert sind, als maschinenlesbare MEI-Dateien codiert. Die entsprechende Datenbank mit den Interpretationen besteht aus Aufnahmen, die am Markt erhĂ€ltlich sind. âLeider haben die Wiener Philharmoniker ihr Notenarchiv nicht fĂŒr wissenschaftliche Zwecke freigegebenâ, bedauert VanderHart. âSehr hilfreich war allerdings die Ăsterreichische Mediathek, wo viele Kontextinformationen zu den AuffĂŒhrungen auffindbar sind.â
Stilistischer Wandel
Die Geschichte der Neujahrskonzerte ist von zwei Langzeitdirigenten â Clemens Krauss und Willi Boskovsky â geprĂ€gt, bevor sich ab den 1980ern Lorin Maazel, Herbert von Karajan, Claudio Abbado, Carlos Kleiber und viele weitere KoryphĂ€en abwechselten. Sie alle greifen frĂŒhere Interpretationen auf, versuchen der Musik aber auch eigene Nuancen mitzugeben. FĂŒr Chanda VanderHart zeigt die von den neuen technischen Mitteln ermöglichte Analyse, wie unterschiedlich die Dirigenten â alle waren bisher MĂ€nner â an die Musik herangehen. âEin Thema im Kaiserwalzer mit einem martialischen Grundton klingt in den frĂŒhen Aufnahmen etwa noch recht militĂ€risch, bevor es sich in spĂ€teren Jahren stilistisch vollkommen wandelt, harmloser, runder wird und plötzlich beinahe ein bisschen an Karussell-Musik erinnertâ, gibt die Musikwissenschaftlerin ein anschauliches Beispiel.
Spannend ist etwa auch, wie sich beim Flötenspiel des Donauwalzers eine AuffĂŒhrungspraxis weitgehend durchgesetzt hat, die von allen wissenschaftlichen und ĂŒblichen Partituren abweicht. Auch die charakteristischen Pausen und Tempiwechsel in den Wiener Interpretationen des StĂŒcks scheinen ĂŒber die Jahre immer stĂ€rker ausgebaut zu werden. âĂber die Zeit betrachtet lĂ€sst sich sagen, dass sich die Walzer des Neujahrskonzerts immer weiter von einer ursprĂŒnglichen Spielweise als Tanzmusik wegbewegenâ, resĂŒmiert VanderHart. âSie werden symphonischer, formal offener und kontrastreicher.â
Zu den Personen
David M. Weigl forscht an der Schnittstelle von Computer- und Kulturwissenschaften. FrĂŒhere Stationen seiner Karriere waren die University of Edinburgh, die McGill University und die Oxford University. 2018 wechselte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Institut fĂŒr musikalische Akustik â Wiener Klangstil der UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien (mdw).
Die Musikwissenschaftlerin, Pianistin und Musikvermittlerin Chanda VanderHart studierte in New York, Mailand und Wien und ist seit 2016 an der mdw. Als Pianistin gastierte sie in zahlreichen KonzerthÀusern weltweit. Gleichzeitig spielte sie eine Reihe von Musikalben ein, darunter Werke von Brahms, Schumann und Copland.
Das Projekt âSignature Sound Viennaâ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 406.000 Euro gefördert und schlieĂt im Sommer 2024 ab.
Publikationen
Weigl D. M., VanderHart Ch. et al.: Listen Here! A Web-native digital musicology environment for machine-assisted close listening, in: Proceedings of the 10th Int. Conference on Digital Libraries for Musicology (DLfM '23) 2023
VanderHart Ch., Nurmikko-Fuller T., Weigl D. M.: Hand in Hand: Straussâ Kaiserwalzer as a case study of interdisciplinary collaboration in digital musicology, in: Digital Humanities 2023 Book of Abstracts, Grazdavi, Austria
Weigl D. M., VanderHart Ch., Goebl W: Letâs be mei-friends! Musikcodierung leicht gemacht, in: Methoden und Ziele der digitalen Musikwissenschaft (GfM Tagung 2023, SaarbrĂŒcken)
Weigl D. M., VanderHart Ch. et al.: The Vienna Philharmonic Orchestraâs New Yearâs Concerts: Building a FAIR Data Corpus for Musicology, in: Proceedings of the 9th Int. Conf. on Digital Libraries for Musicology (DLfM â22) 2022
