Otto Speckter: Die Geschwister Anton, Franz, Maria, Felix und Josef Rainer von FĂŒgen (v.li.) Lithografie, 1827 © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck

Die Geschwister Rainer aus FĂŒgen im Zillertal waren die erste international erfolgreiche Gesangsgruppe aus dem deutschen Sprachraum. In einer Zeit wachsenden Nationalbewusstseins, in der Tirol vom Image eines freiheitsliebenden Landes profitierte und sich die Alpen- und Tirolermode großer Beliebtheit erfreute, reisten sie von 1824 bis 1838 durch Deutschland und Großbritannien und waren selbst am Londoner Hof gern gesehene GĂ€ste. Die ihnen nachfolgende Rainer Family feierte anschließend in den USA große Erfolge. Diesem bisher unerforschten Kapitel der österreichischen Musikgeschichte widmete sich der Musikethnologe Thomas Nußbaumer von der Salzburger KunstuniversitĂ€t Mozarteum in einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF.

Erfinder volkstĂŒmlicher Unterhaltung

Gemeinsam mit der Musikwissenschafterin Sandra Hupfauf arbeitete Nußbaumer die AnfĂ€nge der erst spĂ€ter so genannten „Tiroler NationalsĂ€ngertradition“ auf, deren Spuren bis nach Russland und bis in die jĂŒngere Vergangenheit reichen. Den singenden Familien im 19. Jahrhundert und ihren internationalen Erfolgen wurde von der Forschung lange Zeit keine Beachtung geschenkt, weil sie als Modewelle und minderwertige Folklore eingestuft wurden. Dabei waren sie so etwas wie die Erfinder des bis heute beliebten und erfolgreichen volkstĂŒmlichen Schlagers, indem sie musikalische mit kommerziellen Interessen geschickt verbanden. Doch inzwischen interessiert sich auch die internationale Forschung fĂŒr die Tiroler SĂ€nger. „In der neueren amerikanischen Forschung ĂŒber die Entwicklung der Popularmusik widmet man sich schon lĂ€nger den „Tyrolese Minstrels“, insbesondere den berĂŒhmtesten, der Rainer Family aus dem Zillertal“, erklĂ€rt Projektleiter Nußbaumer.

Richtungsweisend fĂŒr amerikanische Popularmusik

Die Rainer Family um den damals 18-jĂ€hrigen Ludwig Rainer sei im Auftrag eines amerikanischen GeschĂ€ftsmannes, dessen Herkunft nicht gesichert ist, förmlich „gecastet“ worden, so Nußbaumer. Die SĂ€ngergruppe gab von 1839 bis 1843 zahlreiche Konzerte in GroßstĂ€dten der USA, unter anderem in New York, Boston und New Orleans. Dort feierte sie nicht nur enorme Erfolge, sondern war auch Vorbild fĂŒr die Entwicklung der Minstrel Show, eine Art musikalisches Kabarett, und des vierstimmigen A-cappella Barbershop-Gesanges. Auch trugen die Rainers wesentlich zur Popularisierung des Jodelns in der amerikanischen Unterhaltungsmusik bei.

Liedadaptionen verflachen Originale

Etliche Lieder wurden eigens fĂŒr die Rainers komponiert, andere waren bereits im deutschen und englischen Sprachraum populĂ€r, wie die heute noch bekannten Titel „Du, du liegst mir im Herzen“ oder „Ach, du lieber Augustin“. Fast jedes Lied liegt zweisprachig vor, wie die Analysen des umfassenden Liedrepertoires zeigen, die Sandra Hupfauf in dem FWF-Projekt durchgefĂŒhrt hat. Die erste Generation, die Geschwister Rainer, ließ ihre Lieder in London ĂŒbersetzen. Sie wurden von dem in London ansĂ€ssigen Pianisten Ignaz Moscheles unter dem Titel „The Tyrolese Melodies“ zweisprachig herausgegeben: im Tiroler Dialekt und in adaptierten englischen Übersetzungen. „Die Adaptionen sind vielfach auf ein adeliges und bĂŒrgerliches Publikum zugeschnittene Verschönerungen“, so Nußbaumer. Dabei seien Zweideutigkeiten der Dialektversionen in Richtung Erotik verlorengegangen, um das Bild von den frommen Naturmenschen aus den Alpen nicht zu zerstören, erklĂ€rt der Wissenschafter.

Das Spiel mit den Klischees

Die vielen Beispiele tirolerischer und englischer Versionen der gleichen Lieder offenbaren das Talent der frĂŒhen Tiroler NationalsĂ€ngergesellschaften, sich mit ihrer Musik einem fremden Publikum verstĂ€ndlich zu machen und als WerbetrĂ€ger fĂŒr ihre Heimatregionen zu fungieren. „Dabei haben die Rainers beider Generationen in erster Linie mit Klischees gearbeitet“, erklĂ€rt der Volksliedexperte. Dazu zĂ€hlten etwa das Jodeln, das eindeutig mit den Alpen in Verbindung gebracht wird, und eine entsprechende Tracht. Die Rainers haben sich aber auch damaligen Trends wie der deutschen Walzermode nicht verschlossen und gekonnt fĂŒr sich adaptiert, wie das StĂŒck „Jodeln Waltzes“ belegt. Auch ihr Programm wurde schon bald umbenannt von „Tyrolese Singing“ auf den mehr Erfolg versprechenden Titel „Tyrolese Singing and Waltzing“. Mit dem Alpenklischee spielt die volkstĂŒmliche Musikszene bis heute. VersatzstĂŒcke aus Folklore, Pop, Dreivierteltakt zĂ€hlen nach wie vor zu den Ingredienzen erfolgreicher Unterhaltungsmusik. Die Rainers legten im 19. Jahrhundert den Grundstein fĂŒr diesen prĂ€genden Musikstil, wie der Herausgeber Thomas Nußbaumer und die Autorin Sandra Hupfauf in dem Buch „Die Lieder der Geschwister Rainer und ‚Rainer Family‘“ als Ergebnis des FWF-Projekts anschaulich dokumentiert und aufbereitet haben.


Zur Person Thomas Nußbaumer ist Musikwissenschafter am Innsbrucker Sitz der UniversitĂ€t Mozarteum Salzburg. Er ist Experte fĂŒr Volksmusikforschung mit den Schwerpunkten Musik und Brauch, Fasnacht, Volksmusik und Nationalsozialismus sowie Überlieferung der Volksmusik im Alpenraum.


Publikationen

Thomas Nußbaumer (Hg.), Sandra Hupfauf: „Die Lieder der Geschwister Rainer und ‚Rainer Family‘ aus dem Zillertal (1822-1843)“, Reihe: Schriften zur musikalischen Ethnologie, Band 5, UniversitĂ€tsverlag Wagner, 2016 (pdf)
Thomas Nußbaumer, Brigitte Mazohl (Hg.), Sandra Hupfauf, Silvia M. Erber: „Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796–1848“, Reihe: Schriften zur musikalischen Ethnologie, Band 2, UniversitĂ€tsverlag Wagner, 2013
Armin W. Hadamer: „Mimetischer Zauber. Die englischsprachige Rezeption deutscher Lieder in den USA 1830–1880“, Reihe: Volksliedstudien, Band 9, Waxmann, 2008 (pdf)