Spitze Wasserfänger
Regentropfen sind in der Atacama-Wüste absolute Mangelware. Dennoch gedeihen dort, genauer in den Regionen, die unweit der Pazifikküste liegen, Pflanzen. Es sind unter anderem Arten der Gattung Copiapoa. Diese Kakteengewächse greifen auf den Nebel zu, der sich an der steilen Küste bildet und landeinwärts geweht wird. Sie ernten dessen kleine Tropfen aus der Luft und speichern sie im Pflanzenkörper und in den Wurzeln.
Jessica Huss von der Universität für Bodenkultur in Wien erforscht, wie sie das tun. „Kakteen haben zum Beispiel einen bestimmten Stoffwechsel, der energetisch sehr vorteilhaft ist. Auch deshalb können sie sehr effizient mit Wasser haushalten“, erklärt sie. Die Materialwissenschaftlerin interessiert sich für die Stacheln der Wüstengewächse. Mit ihnen wehren die Pflanzen nicht nur Fressfeinde ab. Sie sind multifunktional. „Ich will erfahren, wie sich Kaktusstacheln im Laufe der Evolution an unterschiedliche Umgebungen angepasst haben – und wie diese Nebel oder Tau aus der Luft holen können“, sagt Huss. Dies tut sie im Forschungsprojekt „Anpassungen von Kaktusdornen zur Nebel- und Tauaufnahme“, welches der Wissenschaftsfonds FWF fördert.
Die Techniken der Kakteen
Die Versuchsobjekte sind neben Arten der Gattung Copiapoa, die in der chilenischen Atacama-Wüste wachsen, auch solche der Gattung Turbinicarpus, die in den Gebirgslagen Zentralmexikos auch Nebel aus der Luft ernten. Zudem erforscht Huss Echinocereus-Arten aus einem Gebiet, in dem es kaum Nebel gibt: der Chihuahua-Wüste im Grenzgebiet zwischen der USA und Mexiko. Rund 30 Pflanzen stehen in einer Kiste in ihrem Büro. Für Untersuchungen nimmt die Forscherin Pflanzen oder Stacheln mit ins Labor. Dort erforscht sie, warum einige Stacheln besser Wasser abperlen lassen und andere es besser direkt in den Pflanzenkörper oder zu den Wurzeln leiten.
Auf welche Weise und wie effizient Kakteen Feuchtigkeit aus der Luft holen und verwerten, hängt auch von der Oberfläche der Stacheln ab. Poröse Stacheln helfen, Tropfen direkt aufzunehmen. An glatten Stacheln perlt Wasser ab. Ihre glatte Oberfläche hilft, Wasser zum Boden und damit zu den Wurzeln zu leiten. Arten der Gattung Opuntia etwa haben das Abperlen verfeinert. Widerhaken und Rillen auf den Stacheln beschleunigen die Tropfen. „Solche und ähnliche Oberflächenstrukturen können dazu beitragen, dass die Tropfen weg von der Spitze des Stachels zum Pflanzenkörper oder zu den Wurzeln befördert werden. Das sind etwa parallele Rillen oder Widerhaken, die sich an der Oberfläche des Stachels befinden. Diese Tropfenbeförderung funktioniert bis zu einem gewissen Punkt auch gegen die Schwerkraft“, erklärt die Biophysikerin.
Von 3-D-Bildern und Zeitraffer-Aufnahmen
Huss arbeitet nicht nur mit Methoden ihres Fachgebiets, sondern auch mit solchen der Botanik und der Pflanzenphysiologie. Unter dem Mikroskop oder auf Makrokamera-Aufnahmen beobachtet sie, wie die Stacheln Tropfen aufnehmen. Bilden sich große Tropfen auf der Oberfläche des Stachels, ist dieser wasserabweisend. Auch weitere bildgebende Verfahren geben interessante Einblicke. Mittels Röntgentomografie erstellt die Forscherin etwa 3-D-Abbilder der Stacheln. Untersuchungen mit dem Raman-Mikroskop wiederum geben Aufschluss über die chemische Beschaffenheit und die Verteilung von unterschiedlichen Komponenten im Gewebe.
„Bei der Wasseraufnahme arbeite ich auch mit Isotopen. Ich tauche die Stacheln in schweres Wasser und sehe mir an, ob dieses später im Hauptkörper des Kaktus wiederzufinden ist“, erklärt Huss. Dazu analysiert sie die chemische Zusammensetzung des Wassers mittels Massenspektrometrie. Bis zum Projektende im Juli 2025 will sie zudem erforschen, wie sich Kaktusstacheln ausbilden und wie diese chemisch und strukturell aufgebaut sind. Dafür filmt Huss die Kakteen auch mit einer Zeitrafferkamera.
Ergebnisse ihrer Analysen überraschen die Materialwissenschaftlerin immer wieder. „Es ist spannend, dass die Stacheln vielseitig und unterschiedlich aussehen und sich auch anders verhalten. Eine Turbinicarpus-Art kann ihre flexiblen Stacheln im Nebel passiv auseinanderrollen. Sie richten sich regelrecht auf. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sich die Stacheln bewegen. Das war faszinierend“, erzählt sie.
Was wir von Kaktusstacheln lernen können
Was kann sich die Menschheit von natürlichen Funktionen und Materialien für eigene Erfindungen abschauen? Es sind Fragen wie diese, denen das Forschungsfeld der Bionik nachgeht. Ergebnisse gibt es zuhauf. Etwa Saugnäpfe, die Tentakeln von Oktopussen nachempfunden sind, oder das Laufmuster von Krabben, das als Inspiration für die Fortbewegung von Robotern dient. Auch Leitkanäle von Kaktusstacheln haben schon eine Erfindung inspiriert: ein Pflaster, das Schweiß sammelt und durch Kanäle zu einem Sensor leitet. Dieser analysiert schließlich dessen chemische Bestandteile. Die Leitung funktioniert ohne externen Energieaufwand. Das Pflaster kann zur Gesundheitsüberwachung eingesetzt werden.
Jessica Huss’ Forschung zeigt: Von Pflanzenstacheln lässt sich noch viel lernen. „Könnte man ein Material so über der Struktur zusammenbauen, dass es sich – wie der Stachel der Turbinicarpus-Art – unabhängig von Energiequellen aufrichten kann, wäre das spannend für technologische Anwendungen“, erläutert sie. Solche autonomen Materialien werden etwa im Bereich der Robotik erforscht.
In der Atacama-Wüste fangen übrigens auch Menschen Nebel aus der Luft ein. Sie tun dies mit sogenannten Nebelfängern – Netzen, in denen sich Tropfen fangen und dann in eine Rinne abfließen. Durch die Klimakrise werden immer mehr Gebiete immer trockener. Dann wird man auch andernorts auf Techniken zurückgreifen müssen, mit denen man Wasser aus der Feuchtigkeit in der Luft gewinnen kann. „Einblicke in die Natur können helfen, Lösungen, mit denen man Nebel auffangen kann, effizienter zu machen“, so Huss. Einblicke, die uns die Forschung, wie jene an Kaktusstacheln, ermöglicht.
Zur Person
Jessica Huss ist Postdoktorandin am Institut für Biophysik der Universität für Bodenkultur Wien. Seit August 2022 leitet sie dort eine Forschungsgruppe, die sich mit der Aufklärung der chemischen, mechanischen und strukturellen Eigenschaften von hartem Pflanzengewebe mit Fokus auf Kaktusstacheln beschäftigt. Huss promovierte an der Technischen Universität Berlin sowie am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung im Bereich Materialwissenschaften. Ergebnisse ihrer Forschung brachte sie in die Ausstellung „Bioinspiration. Die Natur als Vorbild“ ein, die noch bis 3. September 2023 im Technischen Museum in Wien zu sehen ist. Das Projekt „Anpassungen von Kaktusdornen zur Nebel- und Tauaufnahme“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 297.100 Euro gefördert.
Publikationen
Huss J. C., Gierlinger N.: Functional packaging of seeds, in: New Phytologist 230(6), 2021
Huss J. C., Antreich S. J., Bachmayr J. et al.: Topological Interlocking and Geometric Stiffening as Complementary Strategies for Strong Plant Shells, in: Advanced Materials 32(48), 2020
Huss J. C., Schoeppler V., Merritt D. J., Best C. et al.: Climate-Dependent Heat-Triggered Opening Mechanism of Banksia Seed Pods, in: Advanced Science 5(1), 2018