Zensur, Diskriminierung, sexuelle Identität oder das Schicksal Geflüchteter: Das Projekt „Mapping the Unseen“ lenkt den Fokus auf gesellschaftliche Tabus. © Mapping the Unseen

Eine künstlerische Intervention in einem Geschäftslokal in Zagreb, Kroatien, im Jahr 2019: Eine der Installationen, die hier gezeigt werden, thematisiert den Verlust der sexuellen Unberührtheit und versucht dabei, zwei kontrastierende Seiten einzufangen: einerseits eine romantische, verspielte Perspektive, aus der viele Menschen auf das Thema blicken, andererseits eine viel weniger weichgezeichnete, harte und raue Realität der ersten sexuellen Erfahrungen. In einem anderen Ausstellungsraum stehen Seile im Vordergrund. Sie winden sich um Körper, um verschiedene Seiten einer Psyche, einer Identität zusammenzuführen und in mentaler Hinsicht wiederherzustellen und zu heilen. Ein drittes künstlerisches Ereignis setzt sich mit den Schwierigkeiten von LGBTIQ-Personen in ihrem Arbeitsumfeld auseinander. Ein Theaterstück thematisiert Diskriminierungen und ihre Folgen und soll künftig auch als Sensibilisierungsmaßnahme in Unternehmen aufgeführt werden.

Neben Vorträgen, Interviews, Workshops und Filmvorführungen waren diese drei Beiträge bei der Intervention zum Thema LGBTIQ zu sehen, die im Rahmen des vom PEEK-Programm des Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Projekts „Mapping the Unseen“ in der kroatischen Hauptstadt stattgefunden hat. Ziel der von der darstellenden Künstlerin und Psychologin Katrin Ackerl Konstantin initiierten Aktivitäten, die sich an den Prinzipien der künstlerischen Forschung ausrichten, ist das Ausloten von Themen, die in verschiedenen Gesellschaften tabuisiert und in der Öffentlichkeit nicht behandelt werden. Die Orte des „analogen Mappings“, wie dieses Erkunden der diskursiven Leerstellen durch lokale Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, NGOs und einer interessierten Community im Projekt genannt wird, sind über den ganzen Globus verteilt. In Kroatien stand das Thema LGBTIQ im Fokus, in Bangladesch der Umgang mit geflüchteten Angehörigen der Rohingya-Volksgruppe, die in großen Zahlen aus Myanmar dorthin vertrieben wurden. Im Iran wurden – unter den erschwerenden Umständen eines totalitären Regimes – Diskriminierung und künstlerische Freiheit zum Thema.

Projektleiterin Katrin Konstantin Ackerl im Interview mit einem Darsteller des Theaterstücks "Workplace Equality for All" zum Thema LGBTIQ in Zagreb. © Nina Đurđević/Mapping the Unseen

Möglichkeitsräume, um gesellschaftliche Ordnungen infrage zu stellen<s></s>

Ausgangspunkt der Betrachtung waren die österreichischen Städte Klagenfurt und Villach. „Drei Personen, die in Kärnten leben oder lebten und aus den drei Ländern nach Österreich migrierten, wurden unsere Guides zu den tabuisierten Themen – sowohl in Österreich als auch in ihren Herkunftsländern“, blickt Ackerl Konstantin zurück. In den jeweiligen Städten, in denen die Erkundungen stattfanden, wurden Künstler:innen, Kunstgruppen, NGOs, Vereine oder Institutionen eingeladen, diese unsichtbaren Themen zu beleuchten und ihre Perspektive einzubringen. „Diese Praxis des Mappings kann man sich als eine Form der künstlerischen Kartografie vorstellen, die marginalisierte Themen als ungenutzte gesellschaftliche Räume vermisst und sichtbar macht“, erklärt die Forscherin.

Analog zu diesen „diskursiven Leerständen“ suchte man in den Ländern vor Ort nach tatsächlich leer stehenden Räumen – etwa Geschäftslokalen oder Büros –, die im Rahmen der künstlerischen Forschung mit Aktivitäten „befüllt“ werden konnten. Ackerl Konstantin nutzte dafür das Format der sogenannten Schauräume, das sie selbst mitentwickelt hat. „Es geht darum, jenseits von Theatersälen Performances zu zeigen, um nicht nur ein Kunstpublikum zu erreichen. Diese performativen und partizipativen Interventionen werden Teil eines interdisziplinären Ansatzes mit dem Ziel, marginalisierte Themen sichtbar zu machen“, beschreibt die Künstlerin und Wissenschaftlerin. „Die Räume werden zu Möglichkeitsräumen, in denen gesellschaftliche Ordnungen infrage gestellt werden.“ Auch in Zagreb wurde auf diese Weise ein Geschäftslokal belebt. Nur in Teheran musste man sich in Privaträume zurückziehen, um mögliche Repressalien im autoritären System zu vermeiden.

Nach den Realisierungen in den Ländern Iran, Bangladesch und Kroatien wurde das Thema ebenso mittels Intervention in entsprechenden Leerständen in Österreich umgesetzt. Dafür wurden die Künstler:innen und Kooperationspartner:innen eingeladen, ihre Arbeit erneut zu zeigen. Das Programm wurde aber auch durch regionale Beiträge von Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und Vereinen angereichert, die aktuell ebenfalls zu der ausgewählten Thematik arbeiten. Ziel war dabei, die Themen aus einer interkulturellen sowie transkulturellen Perspektive mit Mitteln wie Interviews oder teilnehmender Beobachtung zu beforschen.

Einblick in das virtuelle Mapping zum Thema künstlerische Freiheit in Villach/Österreich. © Mapping the Unseen

Vom analogen zum virtuellen Mapping

Die künstlerische Forschung, die Ansätze aus Kunst und Wissenschaftstheorie vereint  und die individuelle sinnliche Erfahrung in experimentellen Settings als Mittel der Erkenntnis nützt, untersucht und schafft hier alternative Wahrnehmungsmöglichkeiten zu jenen Machtstrukturen und anderen gesellschaftlichen Mechanismen, die sich in der Tabuisierung von sozialen Realitäten abbilden. Die Erkenntnisse dieser Forschungstätigkeit auf adäquate Weise langfristig zugänglich zu machen, wurde zu einem integralen Bestandteil von „Mapping the Unseen“. Auf die Vor-Ort-Performances des analogen Mappings folgte der Aufbau eines digitalen Erfahrungsraumes, in dem die Ergebnisse der Kartografierarbeit im Zuge eines „virtuellen Mappings“ zur Verfügung gestellt werden.

Filmaufnahmen, Bilder und Materialien zu den Interventionen sind an diesem Reflexionsort in der Onlinewelt abrufbar. „Dabei handelt es sich nicht nur um ein Archiv, das man einfach durchklickt“, betont Ackerl Konstantin. „Die gebotenen virtuellen Räume setzen sich erst durch das Zusammenspiel mit den Besucher:innen zusammen. Sie sind an der Entstehung der Visualisierung auf der Website beteiligt. Das soll auch den Gedanken des Philosophen Maurice Merleau-Ponty verdeutlichen, wonach die Betrachter:innen immer auch selbst in den Wahrnehmungsprozess eingebunden sind. Erst durch die Begegnung werden Dinge sichtbar.“


Zur Person

Katrin Ackerl Konstantin ist Schauspielerin, Regisseurin und Kulturpsychologin. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf partizipativer darstellender Kunst aus einer queer-feministischen Perspektive. Sie studierte Schauspiel am Konservatorium für Musik und darstellende Kunst Wien sowie Psychologie an der Universität Wien und der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seit 1995 ist sie als Schauspielerin, Regisseurin und künstlerische Leiterin an Staats- und Stadttheatern sowie kleinen und mittleren Theatern international tätig. Seit 2011 publiziert und lehrt sie zu den Themen Partizipation, Performativität, Performance. Ihr Projekt „Mapping the Unseen“ wurde im Rahmen des Programms zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK) des Wissenschaftsfonds FWF mit 251.000 Euro gefördert.


Publikationen und Ausstellungen

Ackerl Konstantin K. (Hg.): The virtual mapping of Mapping the Unseen, Zenodo 2021, https://virtual.mappingtheunseen.com

Ackerl Konstantin K.: Mapping the Unseen. Ein künstlerisches Forschungsprojekt, in: Gugg R., Baros W., Sünker H., Coelsch-Foisner S. (Hg.): Utopie und Widerstand: Bloch, Ideologiekritik und Bildung. conflict & communication online, Vol. 20, Nr. 2, 2021 (PDF)

Ackerl Konstantin K., Kopeinig R.: Mapping the Unseen, in: Queer STS Forum. Queer interventions, Vol. 6, 2021 (PDF)

Ackerl Konstantin K.: „Mapping the Unseen“, Exhibition at the Museum am Bach. „Intopia. Welt ohne Lügen. Recherchen zu sozialen Modellen der Moderne. Sammlungsschau“, 21.8.–31.10.2021

Ackerl Konstantin K.: „The virtual mapping of Mapping the Unseen“, Austrian part of the digital exhibition by Creative Europe Free to Create, Create to be Free, 2022