Hintereisferner
Schneeverwehungen am Hintereisferner in Tirol: An diesem Gletscher werden seit Jahren Messungen vorgenommen, die dank Grundlagenforschung immer genauere RĂŒckschlĂŒsse auf VerĂ€nderungen ermöglichen. © foto-webcam.eu

Den Gletschern kommt im Klimawandel eine SchlĂŒsselrolle zu. Ihr rapides Abschmelzen ist ein gut sichtbares Zeichen eines sich verĂ€ndernden Planeten. Ihr Verschwinden hat Auswirkungen auf den Wasserhaushalt einer Region. Die polaren Eisschilde speisen zudem den globalen Anstieg des Meeresspiegels. Doch es ist gar nicht so einfach, den Überblick ĂŒber die genaue Entwicklung der Eisriesen zu behalten. Sie sind – zumindest noch – zu groß und zu zahlreich fĂŒr ein individuelles Monitoring. Deshalb ist es besonders wichtig, Modelle zu entwickeln, die die physikalischen Prozesse hinter dem Wandel eines Gletschers möglichst prĂ€zise abbilden – und die sich auch möglichst einfach auf weitere Gebiete, die nicht exakt beobachtbar sind, ĂŒbertragen lassen.

Im Projekt „Schneedeckendynamik und Massenbilanz auf Gebirgsgletschern“ arbeitet ein Forschungsteam der UniversitĂ€ten Innsbruck und Erlangen-NĂŒrnberg in Deutschland daran, solche Gletschermodelle zu entwickeln und zu verbessern. VerĂ€nderungen der Masse und EnergieflĂŒsse rund um die Eisriesen werden „in hoher zeitlicher und rĂ€umlicher Auflösung“ analysiert, um Niederschlagsverteilungen, Schneeverwehungen und lokale WetterphĂ€nomene besser berĂŒcksichtigen zu können. „Je kleiner die Gebirgsgletscher werden, desto wichtiger werden diese sehr kleinrĂ€umigen PhĂ€nomene fĂŒr ihre Modellierung“, betont Brigitta Goger vom Institut fĂŒr AtmosphĂ€ren- und KryosphĂ€renwissenschaften der UniversitĂ€t Innsbruck, die hier mit dem Glaziologen Georg Kaser und weiteren Kolleg:innen Strategien fĂŒr die engmaschigere physikalische Beschreibung der Gletscher entwirft.

Zur Person

Brigitta Goger ist Postdoc am Institut fĂŒr AtmosphĂ€ren- und KryosphĂ€renwissenschaften der UniversitĂ€t Innsbruck, wo sie ihre Doktorarbeit zu hochauflösenden Wettervorhersagemodellen schrieb. Zuvor studierte sie Meteorologie an der UniversitĂ€t Wien.

Projektleiter Georg Kaser zĂ€hlt zu den renommiertesten Klimaforschenden Österreichs. Das noch bis 2023 laufende internationale Projekt „Schneedeckendynamik und Massenbilanz auf Gebirgsgletschern“ wird vom FWF mit 405.000 Euro gefördert.

Messstation am Hintereisferner (3.245 m). © Rainer Prinz/Uni Innsbruck

Messungen am Hintereisferner in Tirol 

Wesentlicher Ausgangspunkt der Arbeit des Projektteams ist der Hintereisferner, ein mit sechs Quadratkilometern FlĂ€che vergleichsweise großer, aber dennoch leicht zugĂ€nglicher Gletscher im hinteren Ötztal nahe der Grenze Tirols zu Italien – nicht weit vom Fundort jener Eismumie, die unter dem Namen Ötzi bekannt wurde. Der große Vorteil des Hintereisferners ist, dass er zu den am besten erforschten Gletschern Österreichs und generell der Alpen zĂ€hlt. Seit 2016 ist hier eine Messinfrastruktur vorhanden, die in dieser Form weltweit einzigartig ist: ein permanent installierter Laserscanner, der – ferngesteuert von Innsbruck – die GletscheroberflĂ€che tĂ€glich abtasten kann. Aus den GelĂ€ndemodellen, die aus den umfangreichen Messdaten abgeleitet werden können, lassen sich Höhen-, Volumen- und MasseverĂ€nderungen errechnen. FĂŒr Goger und das Team ist dieses technische Hilfsmittel, das die traditionelle Massenbilanzerstellung mittels Pegelstangen ergĂ€nzt, ein wichtiges Hilfsmittel fĂŒr eine fortgeschrittene Modellierung der Gletscherphysik.

In einer ersten Projektphase lag es an Annelies Voordendag, einer Doktorandin am Institut fĂŒr AtmosphĂ€ren- und KryosphĂ€renwissenschaften, die Genauigkeit und FehleranfĂ€lligkeit des Messsystems zu untersuchen. Immerhin sind diese Faktoren von Aspekten wie Messdistanz, Wetter und Wind abhĂ€ngig und somit ausschlaggebend fĂŒr aussagekrĂ€ftige Modellierungen, die darauf aufbauen. „Wir wissen nun, dass wir eine Messgenauigkeit mit maximalen Abweichungen von etwa zehn Zentimetern schaffen – gut genug, um auch die tĂ€gliche Schneedrift aus den GelĂ€ndemodellen ableiten zu können“, resĂŒmiert Goger, die anhand der Daten an einem eigenen „Schneedrift-Modul“ fĂŒr die Gletschermodellierung arbeitet.

Ein Check im Feldlabor. © Rainer Prinz/Uni Innsbruck

Interaktion zwischen Eis und AtmosphÀre

Damit wird es möglich sein, die Daten zur GletscheroberflĂ€che, die sich tĂ€glich durch Niederschlag, Schmelze oder Schneeverwehungen verĂ€ndern, mit einem AtmosphĂ€renmodell in Zusammenhang zu bringen. Die Luftbewegungen ĂŒber dem Gletscher sind besonders komplex, hebt Goger hervor: „Der WĂ€rmeaustausch zwischen EisoberflĂ€che und darĂŒberliegender AtmosphĂ€re ist sehr inhomogen, was großen Einfluss auf die lokalen Luftbewegungen hat. Auch dieser Aspekt hat Einfluss auf die Massenbilanz des Gletschers.“ Die Eismassen sind zudem gewöhnlich von einer kalten Luftschicht umgeben, die warmen oberflĂ€chennahen Strömungen entgegenwirkt und ein schnelleres Abschmelzen bremst. Die Modellierungen könnten hier etwa auch Aufschluss darĂŒber geben, wie viel ein Gletscher an Masse verlieren kann, ohne diesen „Schutzschild“ zu verlieren.

So wie die Messdaten des Laserscanners die Gletschermodelle verbessern, sollen umgekehrt auch die Erkenntnisse aus den Modellen Aufschluss ĂŒber Fehlerquellen und UnschĂ€rfen der Messungen geben – und diese damit kĂŒnftig weiter verbessern. Anstehende Publikationen im Projekt, das vor kurzem um ein Jahr verlĂ€ngert wurde, geben einerseits Aufschluss ĂŒber diese Verbesserung der Messgenauigkeit bei Schneedrift. Andererseits arbeitet Goger auch an einer ersten Winter-Fallstudie, die eine auf den Messdaten aufbauende Simulation der Schneedrift zeigt. Schließlich könnten auch Forscher:innen in anderen Weltregionen die RechenansĂ€tze aufgreifen. Goger: „Wenn die Modelle mit dem Hintereisferner gut funktionieren, könnten die Kolleg:innen in Kanada, die es mit viel grĂ¶ĂŸeren Eismassen zu tun haben, sie beispielsweise auch ausprobieren – und sie auf ihre Untersuchungsgebiete optimieren.“

Publikationen

Goger B., Stiperski I., Nicholson L., Sauter T.: Large-eddy Simulations of the Atmospheric Boundary Layer over an Alpine Glacier: Impact of Synoptic Flow Direction and Governing Processes, 2021 (Preprint)

Goger B., Stiperski I. and the SCHISM Team: The Impact of Large-scale Flow Direction on the Formation of a Glacier Boundary Layer: Two LES Case Studies, EGU General Assembly 2021

Voordendag AB, Goger B., Klug C., Prinz R., Rutzinger M., Kaser G.: Automated and permanent long-range terrestrial laser scanning in a high mointain environment: setup and first results, International Society for Photogrammetry and Remote Sensing ISPRS Vol. 2 2021