Banner und Teilnehmende bei der Europride Parade 2022, Belgrad
Trotz eines Verbots durch das serbische Innenministerium, feierten und protestierten rund 1.000 Teilnehmende anlässlich der Europride-Parade 2022 in Belgrad. © Andrej Isakovic / AFP / picturedesk.com

Als Ana Brnabić 2017 zur Ministerpräsidentin Serbiens ernannt wird, löst das Erstaunen aus. Nicht nur, weil sie als erste Frau in der Geschichte des konservativ geführten Landes eine Regierung anführt, sondern auch, weil sie sich offen zu ihrer Homosexualität bekennt. Eine lesbische Frau in der Spitzenpolitik spricht für Offenheit und Fortschritt. Tatsächlich hat sich in Serbien ab den 1990er-Jahren rechtlich manches für LGBTIQ-Personen verbessert. So wurde Homosexualität 1994 entkriminalisiert, davor galt sie als Krankheit – diese Klassifizierung war übrigens auch in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis 1990 gültig. Verbessert hat sich auch die Regelung bei Änderungen des Geschlechts. Seit 2011 übernimmt die Krankenkasse zwei Drittel der Kosten für medizinische Eingriffe, und die Eintragung eines Geschlechtswechsels in Dokumenten ist seit 2019 mit einem psychiatrischen Gutachten möglich. Dennoch zeigt sich der Soziologe Bojan Bilić skeptisch, gesetzliche Änderungen automatisch als Fortschritt zu betrachten, und verweist auf die rechtliche Situation der Ministerpräsidentin. „Sie ist offen lesbisch, lebt in einer Beziehung und hat ein Kind. Aber es gibt bis jetzt kein Gesetz in Serbien, das gleichgeschlechtliche Partnerschaft erlaubt, und auch nicht Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare.“

Bilić, der in der Vojvodina im Norden Serbiens aufgewachsen ist, hat soeben ein dreijähriges vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt an der Universität Wien abgeschlossen. Als er vor rund zwölf Jahren über die Antikriegsbewegung im ehemaligen Jugoslawien promovierte, begegnete er auch vielen LGBTIQ-Aktivist:innen. „Das war nicht überraschend“, sagt er, „sie haben gemeinsame Anliegen und demonstrierten gegen das Patriarchat, gegen Autoritarismus oder Militarismus.“ Den Forscher interessierte, wie sich interethnische Solidarität und Kooperation von Minderheiten über die neuen, vermeintlich verhassten Nationalstaaten hinweg entwickelten. Zu der Zeit starteten auch die Pride-Parades in der Region, die erste fand bereits 2001 in Belgrad statt. Allerdings hatte sie einen unrühmlichen Auftakt und blieb als „Massacre-Parade“ in Erinnerung, nachdem Kämpfe mit Hooligans eskalierten und zahlreiche Personen schwer verletzt wurden.

Mehr Sichtbarkeit – mehr Intoleranz?

Das Ende des Kommunismus, Krieg und eine unsichere wirtschaftliche Zukunft brachten Nationalismus und rechtskonservative Parteien in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens hervor. Auch in anderen Ländern Osteuropas schüren Populisten bis heute Ängste vor Homosexualität, Feminismus oder Transpersonen. Von der Kirche unterstützt, machen sie sich umso lauter für traditionelle Werte stark, je sichtbarer die Gegenströmungen werden. „Die Wurzeln von Homo- und Transphobie in Post-Jugoslawien sitzen tief“, sagt Bojan Bilić, der sich selbst als aktivistischen Wissenschaftler bezeichnet. Mit anderen Kolleg:innen aus der Forschung hält er Kontakt zu vielen Personen aus der LGBTIQ-Community und untersucht die Entwicklung einer Bewegung, die im Alltag oft nicht sichtbar ist – besonders in ländlichen Regionen, wo queere Menschen in den Familien und im sozialen Umfeld kaum akzeptiert werden.  

In den durch den Tourismus wohlhabenderen EU-Ländern Kroatien und Slowenien wird Diversität zwar offener gelebt und auch toleriert, aber nicht unbedingt gesellschaftlich akzeptiert. Auch Serbien verfolgt das Ziel, der EU beizutreten, daher ist man bereit, rechtliche Zugeständnisse zu machen. „Das muss aber nicht automatisch mit einer Verbesserung in Richtung Toleranz, Stärkung der Minderheitenrechte oder Antidiskriminierung einhergehen“, sagt Bilić mit Blick auf das EU-Mitglied Ungarn. Der Soziologe spricht von einer fragilen Situation in der Region seiner Forschung, die schnell wieder in die Gegenrichtung kippen kann.

Zur Person

Bojan Bilić ist Psychologe und politischer Soziologe. Von 2021 bis 2024 hat er an der Universität Wien, gefördert durch ein Lise-Meitner-Projekt des FWF, über LGBTIQ-Aktivismus und mentale Gesundheit in Post-Jugoslawien geforscht.

Bilić ist Lehrbeauftragter an internationalen Universitäten und u. a. außerordentlicher Professor an der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Bologna sowie Gründer des „Queering YU Network“, eines Kollektivs von Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen.


PRIDE MONTH 2024

Transmenschen demonstrieren auf offenem Platz in Montenegro
Aktivistische Performance „Masken“ von Transmenschen in der montenegrinischen Stadt Kolašin. Die Aktion fand im Rahmen der Montenegro-Pride 2019 als Reaktion auf einen Angriff auf eine Transperson statt. © Miloš Vujović

Politischer Widerstand von rechts und links

Trotz des schwierigen Beginns der Pride-Parade in Belgrad im Jahr 2001 haben die Proteste in Ex-Jugoslawien über die Jahre an Bedeutung gewonnen, stoßen aber auf politischer Ebene immer noch auf Widerstände. So hat die serbische Regierung erst 2022 die Europride-Parade aufgrund von Sicherheitsbedenken untersagt, dennoch fand sie schließlich unter großem Polizeiaufgebot statt. Ein Jahr später gingen erneut tausende Menschen in Belgrad unter dem Motto „Wir sind noch weit davon entfernt“ auf die Straße.

Unter den Protestierenden gegen Gewalt und Diskriminierung finden sich seit rund zehn Jahren immer mehr Transgender-Personen. NGOs wie das „Sarajevo Open Center“ wurden gegründet und unterstützten mit künstlerischem Aktionismus ihre Anliegen. Diese Sichtbarkeit hat zu einem Anstieg von Transphobie und zu Debatten geführt, die sich bis in das linke politische Spektrum und – auch weltweit – in feministischen Gruppen ausgebreitet haben. In den Debatten um mehr Rechte für Transsexuelle sehen Linke und Feministinnen eine Gefahr für ihre Bewegung.

Transpersonen als Gefahr

Der Transphobie im serbischen linken Milieu hat Bojan Bilić in seinem aus dem Forschungsprojekt hervorgegangenen Buch „Transgender in the Post-Yugoslav Space“ (2022) ein eigenes Kapitel gewidmet. In seiner Spurensuche ist er auf lange währende konservative und neokoloniale Dimensionen bei den Linken gestoßen und erklärt: „Sie untergraben progressive Werte auf eine Weise, die erklärte Sozialisten ihren reaktionären Gegnern gefährlich nahekommen lässt, indem sie etwa mit den Transpersonen eine der am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen zwanghaft angreifen.“

In den vergangenen drei Jahren seines Grundlagenprojekts hat der Soziologe gemeinsam mit seinen Kolleg:innen neben rechtlichen Fortschritten und politisch-gesellschaftlichen Hürden auch die psychische Gesundheit von LGBTIQ-Menschen im postjugoslawischen Raum aufgearbeitet. Depressionen und Drogenkonsum sind häufige Folgen von Diskriminierung und Ausgrenzung, besonders unter Jugendlichen. In einem Folgeprojekt will Bilić seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit nun ganz diesem Thema widmen und damit eine Forschungslücke in den postsozialistischen Ländern schließen.

Gleichstellung der Geschlechter in Ex-Jugoslawien