Ein groß angelegtes historisch-kritisches Editionsprojekt liefert neue Einblicke in das Gesamtwerk Ödön von Horváths. (Horváth 1919) © Wikimedia

Das Schicksal hat einem der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne nicht viel Zeit geschenkt. Mit nur 37 Jahren hat Ödön von Horváth ein inzwischen berühmter Tod ereilt. Im Pariser Exil, auf dem Weg nach Amerika, traf den jungen Autor ein herabfallender Ast, der ihn tödlich verletzte. Nur wenige Jahre davor (1931/32) lebte Horváth in Berlin und war dabei, einer der großen Theaterstars der Weimarer Republik zu werden. Doch die Nationalsozialisten machten dem jungen Schriftsteller einen Strich durch die Rechnung, mit dem Ergebnis, dass seine Stücke nicht mehr aufgeführt wurden. „Horváth war während dieser Zeit durchaus bemüht, mit dem Regime zusammenzuarbeiten“, berichtet Klaus Kastberger. Unter anderem versuchte er, für die nationalsozialistische Filmindustrie tätig zu werden und streute dem Regime in Berlin Rosen, wie einzelne Dokumente belegen. „Die Horváth-Forschung nimmt das allerdings nur ungern zur Kenntnis“, sagt Kastberger. Der Literaturwissenschaftler der Universität Graz und sein Team arbeiten mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF seit mehreren Jahren das Werk des Schriftstellers auf. Die daraus entstandene „Wiener Ausgabe Ödön von Horváths“ ist eine historisch-kritische Edition, die insgesamt 19 Bände umfasst. Vier komplexe Bände stehen derzeit noch aus, darunter ein Brief- und Dokumentenband. Gearbeitet wird auch an einem Handbuch, das den Stand der Forschung zusammenfasst.

Ambivalenzen ausleben

Dass das Bild Ödon von Horváths wohl ambivalenter ist, als es gemeinhin wahrgenommen wird, spreche nicht gegen den Schriftsteller, ist Kastberger überzeugt. „Es gibt bei Horváth eine starke Tendenz zu maskenhaften Figuren. Alles bei ihm ist eine Maske, auch die Sprache.“ Damit gelingt es dem Schriftsteller, die Stimmung einer Zeit wahrzunehmen und festzuhalten, in der die Gesellschaft zusehends zerfällt. – Alles gipfelt, so scheint es, in einem einzigen Maskenspiel. Auch Horváth selber war laut Kastberger ein Träger solcher Masken, was Widersprüchlichkeiten in seiner Person auslöst und Momentaufnahmen von ihm zeigt, die in anderen Phasen seines Lebens nicht mehr gültig sind.

Horváth bis heute präsent

Das gesamte Werk Horváths erstmals in seiner Entstehung und Genese nachvollziehen zu können, liefert auch die Antwort auf die Frage, warum Horváth bis heute auf den Bühnen und auch in den Schulen enorm präsent ist. Abgesehen von wiederkehrenden Themen wie Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsbewegungen oder politische Veränderungen, sieht Kastberger vor allem einen formalen Grund für die zeitlose Gültigkeit des Autors: „Dass Horváth an den Themen etwas herausarbeitet, das auch 100 Jahre später noch Bestand hat, liegt allein in der sprachlichen Detailarbeit, in die er unglaublich viel Energie steckte“, so der Germanist. „Damit gelingt es ihm, Themen auf eine Art und Weise darzustellen, die zugleich nahe an der Zeit sind, sie aber auch für andere Zusammenhänge öffnet.“

Hochmoderne Schreibprozesse

Diesem bis heute gültigen „Stoff“ liegen komplexe Schreibprozesse zugrunde, auch das zeigt nun die Werkgenese sehr gut. Ausgerüstet mit Schere und Klebstoff hat Horváth Schnitt- und Montagetechniken angewendet, mit denen er Texte immer wieder neu „abmischen“ und weiterentwickeln konnte – ein Arbeitsstil, mit dem der Schriftsteller voll in der Moderne steht. „Wir haben in der Ausgabe versucht, diesen schwierigen Prozess mit sogenannten Simulationsgrafiken darzustellen, die die Wanderung des Materials zeigen. Eine innovative Editionstechnik macht das möglich“, erklärt Kastberger den eigenen Produktionsverlauf der Ausgabe. Jeder Band – in dem eineinhalb bis zwei Jahre Arbeit stecken – erlaubt damit erstmals tiefe Einblicke in die Schreib- und Lebenswelt des Ödön von Horváth.

Große Außenwirkung

Mit dem Ergebnis, dass die Ausgabe nicht nur eine solide Textgrundlage für die Forschung liefert, sondern auch am Theater Anwendung findet. Viele Regisseure, darunter bekannte Namen wie Frank Castorf, setzen mittlerweile die historisch-kritische Ausgabe am Theater um. Auch an einer digitalen Edition wird übrigens gearbeitet, die bislang „Geschichten aus dem Wiener Wald“ enthält, und zusätzliche Möglichkeiten einer Annäherung an Horváths Werke bietet. Dass die historisch-kritische Ausgabe das Interesse über das wissenschaftliche Feld hinaus geweckt hat, freut Projektleiter Kastberger besonders. Neben Anwendungen in Theater und Pädagogik war die Forschungsarbeit auch von einer erfolgreichen Ausstellung begleitet. Nach Stationen in München und Wien ist „Horváth und das Theater“ ab 9. Jänner im Literaturhaus Graz zu sehen.


Zur Person Klaus Kastberger ist seit 2015 Professor für neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz und Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis. Mit Unterstützung des FWF hat der Germanist die historisch-kritische Ausgabe Ödön von Horváths bei de Gruyter herausgebracht, die als Leseausgabe bei Reclam erscheint, und eine Online- Forschungsplattform zum Werk Peter Handkes an der Österreichischen Nationalbibliothek eingerichtet. Im Zuge der Nobelpreisvergabe an Peter Handke verzeichnete handkeonline.onb.ac.at mehr als 10.000 Zugriffe pro Monat.


Publikation

Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition. Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz. Hg. v. Klaus Kastberger. Berlin: de Gruyter 2009ff.