Ochsentour ohne Alternativen?
Wissenschaftliche Arbeiten darüber, wie eine „typische“ österreichische Politbiografie ausschaut, gibt es einige. Sie kommen für gewöhnlich aus der Politikwissenschaft und beschäftigen sich mit der Frage, wer ins Parlament kommt und was diese Personen verbindet. Eine typische Frage wäre zum Beispiel: War eine betreffende Person in einer Parteijugend – ja oder nein? Aber vielleicht ist darüber hinaus ja auch die Frage interessant, für wie lange. Oder in welchem Alter der Eintritt erfolgte.
Da setzt die Arbeit von Philipp Korom, Soziologe an der Universität Graz, und seinem Team aus Studierenden an. Im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Nationale und lokale politische Eliten in Österreich“ werden die Lebensläufe der politischen Eliten miteinander verglichen – und zwar auch auf der zeitlichen Ebene. Das Ziel: eine umfassende Erhebung der Lebensläufe von Spitzenpolitiker:innen in Österreich im Zeitverlauf, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Veränderungen zu erfassen. „Vom Versuchsaufbau ist es eine klassische elitensoziologische Arbeit“, so Korom. Man arbeite dabei eine „Kollektivbiografie“ heraus, also einen typischen Werdegang einer sozialen Gruppe. In der Fachsprache nennt man diese Methode Prosopografie.
Erhebung von Biografiedaten aus 70 Jahren
Das Herzstück des Projekts ist der Datensatz, für den die Karrieren von über 1.500 Politiker:innen, darunter alle Mitglieder des Nationalrats von 1950 bis 2019, codiert wurden. „Das war eine Mammutaufgabe“, sagt Korom. Es habe zwar etliche Datensätze gegeben, mit denen immer wieder gearbeitet wurde („Jede Generation hatte da ihren eigenen“), aber keinen mit einem derart breiten und systematischen Zugang. Der Datensatz soll in Zukunft über AUSSDA, das österreichische Archiv der Sozialwissenschaften, auch anderen Wissenschaftler:innen zur Verfügung stehen.
Für die Analyse der Biografien kommt die Sequenzanalyse zum Einsatz – ein Verfahren, das ursprünglich aus der Molekularbiologie kommt und dort zur Entschlüsselung von genetischen Mustern genutzt wird. Der berufliche Lebenslauf eines:einer Politiker:in wird darin als Folge verschiedener Berufsstadien abgebildet, die jeweils über eine bestimmte Zeit andauern. Man würde dort zum Beispiel sehen, dass Sebastian Kurz und Gernot Blümel bereits im Teenager-Alter in die Junge ÖVP eintraten (die klassische Parteikarriere, gerne „Ochsentour“ genannt), Pamela Rendi-Wagner aber erst mit Mitte 40 in die SPÖ. Mittels verschiedener Matching-Verfahren können die Wissenschaftler:innen Überschneidungen finden, Cluster bilden und so letztlich Typologien typischer Elitekarrieren erstellen. „Wir schauen uns also nicht nur an, ob zwei Politiker:innen idente Karrierestationen hatten“, erklärt Korom. „Sondern auch, ob sie diese zum selben Zeitpunkt im Leben hatten.“
Wenig Veränderung im Rekrutierungssystem
Das Projekt an der Universität Graz ist ein Folgeprojekt. In den Jahren davor beschäftigte sich Korom, ebenfalls vom FWF gefördert, mit den Lebensläufen akademischer Eliten. Das aktuelle Forschungsprojekt startete 2019 und läuft bis Jänner 2023. „Es haben sich dann drei große Fragen herauskristallisiert, die wir mithilfe der Daten beantworten wollten“, erläutert Korom. „Die erste Frage: Hat sich an den Rekrutierungssystemen der Parteien für den Nationalrat etwas verändert? Die zweite: Warum waren Frauen im Nationalrat so deutlich unterrepräsentiert, zumindest bis vor wenigen Jahren? Und die dritte: Wer kommt in die verschiedenen Ausschüsse?“ Für alle drei Forschungsfragen sind bereits Ergebnisse vorhanden, die in Vorbereitung zur Publikation in Fachjournalen sind.
„Das Interessante ist, dass sich die Rekrutierungssysteme im Verlauf der Zweiten Republik kaum verändert haben, obwohl sich das Parteiensystem verändert hat“, sagt der Soziologe. Es sei natürlich nicht alles gleich geblieben: In der SPÖ sei die Gewerkschaft als Rekrutierungspool ab den 70er-Jahren weniger relevant geworden, in der ÖVP hätten heute weniger Abgeordnete einen Bauernbund-Hintergrund. „Aber im Wesentlichen haben die Abgeordneten über den gesamten Zeitverlauf sehr ähnliche Biografien.“ In der ÖVP zeige sich beispielsweise die bündische Struktur, egal welchen Zeitverlauf man sich anschaue. Und auch für die langjährige und weiter bestehende Unterrepräsentation von Frauen im Nationalrat lassen sich in den Daten Erklärungsansätze finden. „Es zeigt sich, dass der Sprung aus der Kommunalpolitik, zum Beispiel vom Bürgermeisteramt, in den Nationalrat eher Männern offensteht.“
Raum für Folgeforschung
Korom betont, dass in dem Projekt viele Fragen nur angerissen werden konnten. Aber es öffne – nicht zuletzt durch den Datensatz – den Raum für Folgeforschung. Bleibt eigentlich nur mehr eine Frage: Hat Korom, der Biografien von über 1.500 österreichischen Politiker:innen kennt, einen Tipp für den Nachwuchs? Was sollte ich tun, wenn ich 18 Jahre alt bin und irgendwann in den Nationalrat will? „Die Antwort auf diese Frage ist 2022 dieselbe wie 1970: Man sollte die Ochsentour machen. Das erhöht die Chance auf eine Politkarriere am meisten.“
Zur Person
Philipp Korom studierte Soziologie und Psychologie in Graz, Florenz und Straßburg. Er habilitierte sich an der Universität Wuppertal. 2013 erhielt er den Dissertationspreis der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. 2020 wurde er von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Gustav-Figdor-Preis für Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Das Forschungsprojekt „Nationale und lokale politische Eliten in Österreich“ (2019–2023) wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 329.000 Euro gefördert.
Publikationen (Preprints)
Korom, Philipp: What Explains the Post-Quota Gender Gap in National Parliaments? On Gendered Career Opportunities in Multi-Level Austria, 2022
Korom, Philipp: Half a Century of Little Change within the Austrian Legislative Elite. A Prosopographical Study of ÖVP and SPÖ Members of Parliament (1945-2019), 2022
Korom, Philipp: Who runs Parliamentary Committees? Insights from the Austrian Case, 2022