Mit dem “Kleinen Warschauer Herbst” macht das renommierte Festival in Polen auch bei den ganz Jungen Lust auf mehr. Es spielt Artur Zagajewski. © Warschauer Herbst/Grzegorz Mart

Die Musik der Gegenwart ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Formen und Gattungen. Festivals für Neue Musik sind eine wichtige Plattform für solche zeitgenössischen Ausdrucksweisen und künstlerische Intentionen geworden. Sie haben die Entwicklungsgeschichte der Musik in den vergangenen Jahrzehnten stark beeinflusst. Denn als öffentliche Veranstaltungen werden sie immer mehr ein wichtiger Teil des Kulturlebens der Metropolen. Wachsende Aktivitäten manifestieren sich seit den 1980er Jahren in vielen Gründungen von Festivals für Neue Musik und Ensembles und erfahren einen steigenden Zuspruch vonseiten des Publikums.

Erstmals empirisch untersucht

Ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt geht aktuell der Genese und Wirkung von großen internationalen Festivals Neuer Musik nach. Dabei erforschen Musikwissenschafterinnen und -wissenschafter unter der Leitung von Simone Heilgendorff von der Universität Salzburg erstmals länderübergreifend die internationale Szene der neuen Kunstmusik. Renommierte Festivals in drei europäischen Hauptstädten stehen im Zentrum des Forschungsprojekts: das bedeutende Festival „Warschauer Herbst“, das auf eine lange Tradition zurückblickt und internationalen Ruf genießt. – Es nahm seinen Auftakt 1956 in Polen; das Pariser „Festival d’Automne“, das Musik, Tanz und Theater verbindet und 1972 gegründet wurde, sowie das jüngste Festival „Wien Modern“ mit seinem Start im Jahr 1988. „Größe, Binnenstruktur und Hauptstadt-Status geben gerade diesen drei Festivals besonderes Gewicht“, so Projektleiterin Heilgendorff zur Auswahl.

Umfassende Analysen

Neben der Aufarbeitung von historischem Material versucht das international besetzte Forscherteam in dem FWF-Projekt vor allem den Wandel in der Szene der neuen Musik abzubilden. „Die Festivals heben kulturelle Grenzen zusehends auf und sind ein signifikanter Teil des Musikgeschehens geworden“, sagt Simone Heilgendorff. Untersucht werden inhaltliche Aspekte, aber auch Faktoren wie Musikmanagement und -vermittlung. Als zentraler Teil des Erfolgs von Festivals stehen auch die Akteurinnen und Akteure im Fokus der Analysen: vor allem die Kuratorinnen und Kuratoren, Komponistinnen und Komponisten sowie die Musikerinnen und Musiker. Das Forscherteam analysiert die Lebenswege ausgewählter Personen und Ensembles in biografischen Porträts, zum Beispiel von Jagoda Szmytka, Georg Friedrich Haas, Hugues Dufourt oder Helmut Lachenmann und des Ensemble Intercontemporain, Klangforum Wien und Orkiestra Muzyki Nowej. Und schließlich ist auch das Publikum Teil des Forschungsprojekts, das in ausführlichen Befragungen, die 2014 durchgeführt wurden, Antworten liefert auf Fragen zu Alter, Bildung, Motivation, Erwartungen, Internationalität und zu den eigenen Verbindungen zu zeitgenössischer (Kunst-)Musik.

Internationalität und Spielorte als Erfolgsfaktoren

Die Vergleiche zeigen, dass ein wesentlicher Erfolgsfaktor in der Internationalität des Programms liegt. Sie ist bei allen drei Festivals eine Konstante, vertreten durch die „Klassiker“ dieser Szene von Giacinto Scelsi über Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio bis beispielsweise zum Festival-Mitbegründer in Warschau, Tadeusz Baird. Ebenso werden neue Spielorte erprobt, wie etwa die ehemalige Koneser Wodkafabrik in Warschau, die Szene-Clubs Flex und Fluc in Wien, die auch jüngere Publikumsschichten anziehen. Mit durchschnittlich 36 Jahren ist das Publikum in Warschau mit Abstand das jüngste. In Paris und Wien ist der Altersdurchschnitt mit über 52 beziehungsweise 53 Jahren noch relativ hoch, wie das Ergebnis der Auswertung von 1.500 detaillierten Fragebögen zeigt, liegt aber dennoch etwas unter dem des Publikums konventioneller Klassik-Konzerte.

Was zeichnet Neue-Musik-Festivals aus? Sie sind mehr als ein Ort für ExpertInnen, lautet ein Ergebnis der Publikumsbefragung 2014. © Universität Salzburg/Simone Heilgendorff

Positives Image zeitgenössischer (Kunst-)Musik

Der aktive Bezug zu Formen zeitgenössischer Musik ist beim Publikum, so zeigen die Befragungen, weniger ausgeprägt, gleichzeitig hat die zeitgenössische (Kunst-)Musik ein positives Image. Die Festivals werden nicht als Ort für Expertinnen und Experten gesehen, sondern als offene Plattformen für Begegnung, Experimentelles und Diversität. „Das sind erste Belege dafür, dass sich die Szene der Neuen Musik aus ihrer Nische herausbewegt hat“, erklärt Heilgendorff. Wenngleich ein internationaler Festival-Tourismus laut den Untersuchungen nicht zu beobachten ist. Besucherinnen und Besucher kommen noch immer vorwiegend aus der Region, insbesondere trifft das auf die Festivals in Paris und Wien zu.

Großes Potenzial

„Festivals Neuer Musik nehmen ihr Publikum in jüngerer Zeit vermehrt in den Blick, sowohl das ‚alte‘ wie das ‚neue‘“, sagt Simone Heilgendorff. Auf diese Weise würden sie sich auch in aktuelle Diskussionen zu Ästhetik, Kultur und Lebensstil einbringen, so die Projektleiterin zum wachsenden Stellenwert dieser Veranstaltungen. Insgesamt, ist die Wissenschafterin und Musikerin überzeugt, würden die Festivals für zeitgenössische Musik ein großes Potenzial besitzen und die kulturelle Entwicklung vorantreiben. Interdisziplinarität, Kollaboration der Disziplinen, die von elektronischer Musik bis zu experimenteller Popmusik reichen, sind die Kennzeichen für eine Entwicklung, die Grenzen überschreitet und künstlerische Antworten auf aktuelle Gegenwartsfragen liefert.


Zur Person Simone Heilgendorff ist Musikwissenschafterin und Bratschistin. Sie ist Leiterin des FWF-Projekts „New Music Festivals as Agorai – Their Formation and Impact at Warsaw Autumn, Festival d’Automne Paris, and Wien Modern after 1980“ (2013–2016) am Fachbereich für Kunst, Musik und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Neue und barocke Musik, kulturelle und kulturpsychologische Kontexte von Musik, die Americana um John Cage, Musikanalyse und Aufführungspraxis sowie Interpretationskultur.


Projektwebsite

http://uni-salzburg.at/newmusic
Das Team des FWF-Projekts arbeitet eng mit dem Programmbereich „ConTempOhr. Vermittlung zeitgenössischer Musik – Mediating Contemporary Music“ am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg und der Universität Mozarteum zusammen.

Terminhinweis

Am 22. November findet in Wien die Präsentation der Resultate der Publikumsbefragung bei „Wien Modern“ statt mit anschließender Podiumsdiskussion. Die Veranstaltung „Festivals Neuer Musik in Metropolen: Was tut und wer ist ihr Publikum?“ ist öffentlich.
Sonntag, 22.11. 2015, 16:30 Uhr MICA, Stiftgasse 29, 1070 Wien
Am Podium: Dr. Katarzyna-Grebosz-Haring und Dr. Simone Heilgendorff, Lothar Knessl (Gründer und früherer Leiter von Wien Modern), Mag. Sabine Reiter (Geschäftsführende Direktorin des MICA), Matthias Lošek (Künstl. Leiter von Wien Modern), Moderation: Susanna Dal Monte

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