Mit der Schaufel nehmen die Forschenden Sedimentproben vom Meeresboden mitsamt den darin lebenden Organismen. © P. G. Albano

Als 1869 der Suezkanal zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer feierlich eröffnet wurde, interessierte man sich noch nicht für die Wirkungen der baulichen Großtat auf die marine Fauna und Flora. Ab den 1960er-Jahren registrierten Biolog:innen jedoch, dass durch die künstliche Verbindung vermehrt tropische Arten ins Mittelmeer einwanderten oder mit dem Ballastwasser eingeschleppt wurden: „Wir kennen den Startpunkt, wissen aber kaum etwas über die Dynamik des Prozesses. Die historische Entwicklung des Ökosystems und seiner Artenzusammensetzung wurden ja nicht beobachtet“, beschreibt Paolo G. Albano, Leiter eines vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts die Ausgangssituation. Diese hundertjährige Wissenslücke sollte mit paläontologischen Methoden – konkret mittels der Auswertung von Weichtierschalen und ihrer Schichtung – geschlossen werden.

Der erste Feldforschungstrip ins südöstliche Mittelmeer deckte jedoch keine schleichende Entwicklung auf, sondern einen Kollaps der mediterranen Arten. Analysiert wurden sowohl Proben aus dem Sediment, also aus dem Meeresboden, als auch die lebenden Organismen darüber, um ein aktuelles Bild der Biodiversität zu gewinnen. Rund 80 Prozent der im Mittelmeer noch vor 200 Jahren verbreiteten Weichtiere waren nur noch im Sediment nachweisbar. Darüber lebten beinahe ausschließlich tropische Zuzügler. „Wir wollten besser verstehen, was den massiven Rückgang mediterraner Arten ausgelöst hat, und ob die tropischen Neuankömmlinge als Treiber dieser Entwicklung infrage kommen“, so der Meeresbiologe.

Die Ansammlung leerer Muschelschalen am Meeresboden speichert die Erinnerung an die Entwicklung des Ökosystems und ermöglicht den Biodiversitätsverlust abzuschätzen. © I. Gallmetzer

Zuzug aus den Tropen

Der Austausch von Lebewesen zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer wird nach dem Initiator der Schiffsverbindung, dem französischen Diplomaten Ferdinand de Lesseps, als „Lessepssche Migration“ bezeichnet. Für ihre Untersuchungen haben die Forschenden die israelische Küste ausgewählt, weil sie nächst der Kanalmündung liegt, gut erreichbar ist und die lokale Wissenschaftscommunity neben organisatorischer Unterstützung auch wertvollen fachlichen Input liefern konnte. Mittlerweile wurde ein Folgeprojekt beim FWF genehmigt.

„Lessepssche Invasion“ hält Paolo G. Albano für den passenderen Begriff. Schalen mariner Weichtiere können 100 bis 1000 Jahre im Sediment überstehen, also Auskunft über die historische Artenzusammensetzung liefern. Allerdings sind die aussagekräftigen Überreste nur einen halben bis einen Millimeter groß, was in der Analyse viel Zeit in Anspruch nahm. Jede Schicht liefert einen historischen Schnappschuss des Artenspektrums, wobei vorher nicht klar ist, wie viele Zentimeter Meeresboden wie viele Jahrzehnte repräsentieren. Die zeitliche Einordnung erfolgt anhand der Schalen toter Organismen mittels Radiokarbonmethode. Die aktuelle Biodiversität wurde anhand der lebenden Weichtiere erhoben.

Tropische Arten, wie diese hübsche marine Nacktschnecke, machen inzwischen den größten Anteil der Organismenvielfalt an der israelischen Mittelmeerküste aus. © M. Holzknecht

Hitzebedingter Kollaps der Biodiversität

Die Untersuchung der felsigen (mit Tauchgängen) und der sandigen Bodenproben (mit Baggerschaufel vom Schiff aus) führte zum gleichen Ergebnis, wobei das weiche Sediment eine längere Gedächtnisleistung hat – mehrere Jahrhunderte im Vergleich zu 20 bis 50 Jahren bei Felsen. „Der Kollaps um 80 bis 90 Prozent des Artenspektrums innerhalb der mediterranen Biodiversität liegt noch nicht lange zurück, vermutlich geschah das innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte. Wir gehen davon aus, dass die starken Verluste mit der Erwärmung des Meerwassers durch den menschgemachten Klimawandel zu tun haben“, erklärt der Wissenschaftler.

Im südöstlichen Mittelmeer wird das Wasser an der Meeresoberfläche inzwischen bis zu 30 Grad warm und hat eine tropische Badewannentemperatur. Die Arten im Mittelmeer sind auf ein kühleres Klima eingestimmt und können bei der rasch fortschreitenden Erwärmung nicht mehr mit. Die veränderten Bedingungen sind wiederum vorteilhaft für Arten aus dem Roten Meer, die sich noch leichter ansiedeln können. Der größere Biodiversitätsverlust zeigte sich über dem felsigen Substrat. Warum das so ist, soll im Folgeprojekt genauer untersucht werden. Für die im südöstlichen Mittelmeer heimischen Arten wird diese Erkenntnis jedenfalls zu spät kommen.


Zur Person

Paolo G. Albano forscht multidisziplinär an der Schnittstelle von Lebens- und Erdwissenschaften. Er erkundet die marine Biodiversität auf verschiedenen räumlichen und zeitlichen Skalen mit Augenmerk auf die Treiber für ihren Rückgang. Nach sieben Jahren an der Universität Wien, wo er mit einem Marie Curie Fellowship Station machte, arbeitet er nun als Senior Scientist an der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel, dem italienischen Institut für Meeresbiologie, Ökologie und Biotechnologie. Das Projekt „Historische Ökologie der Lessepsschen Migration“ (2016–2021) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 444.000 Euro gefördert.


Publikationen

Steger J., Bošnjak M., Belmaker J., Galil B. S., Zuschin M., Albano P. G.: Non-indigenous molluscs in the Eastern Mediterranean have distinct traits and cannot replace historic ecosystem functioning, in: Global Biology and Biogeography, Vol. 31, Issue 1, 2021

Albano P. G., Steger J. Bošnjak M., Dunne B., et al.: Native biodiversity collapse in the eastern Mediterranean, in: Proceedings of the Royal Society Biological Sciences, Vol. 288, Issue 1942, 2021