Sicherheitskräfte patrouillieren durch Sierra Leones Hauptstadt Freetown.
Sicherheitskräfte patrouillieren am 26. November 2023 durch Sierra Leones Hauptstadt Freetown. Zuvor war es zu Zusammenstößen zwischen der regierungstreuen Armee und aufständischen Soldaten gekommen. Sierra Leone erlebte von 1991 bis 2002 einen der schlimmsten Bürgerkriege Afrikas mit Zehntausenden Toten. © John Wessels/AFP/picturedesk.com

Ein Krieg besteht nicht nur aus zwei Armeen, die übereinander herfallen. Das Chaos eines bewaffneten Konflikts resultiert aus unzähligen Ereignissen, in die Uniformierte, aber auch Zivilist:innen involviert sind – als Opfer wie als Täter:innen. In den Geschichtswissenschaften war man gewohnt, diese Konflikte im Großen zu betrachten, mit all ihren inneren Strukturen, Entwicklungen und Folgen. In den vergangenen Jahrzehnten stieg dagegen das Interesse, Konflikte auch auf der Ebene der täglichen Einzelereignisse zu betrachten. Daraus resultieren große Datensätze, die der Forschung zur Verfügung stehen. Der Überfall auf ein Dorf, der Mord aus ethnischen Gründen, die Vertreibung einer Familie oder ein offener Protest in den Straßen einer Stadt werden so zu Mosaiksteinen, die das große Ganze besser verstehen lassen.

Eine von Forschenden oft herangezogene Sammlung dieser Art stammt vom Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED). Mithilfe jeweils lokaler Partner registriert und prüft die dahinterstehende NGO hier Millionen Einzelereignisse weltweit, die Zeiträume von mehreren Jahrzehnten füllen. Die Datenbank ist auch die Grundlage eines Forschungsansatzes von Eddie Lee am Complexity Science Hub (CSH) Vienna. Der Wissenschaftler entwickelt in einem Projekt, das der Wissenschaftsfonds FWF fördert, eine neue Betrachtungsweise bewaffneter Konflikte, die sich der Mittel der Komplexitätsforschung und Netzwerkanalyse bedient.

Eines der zentralen Ziele dabei ist, Konflikttypen besser abgrenzen und kategorisieren zu können. „Wie entscheidet man, ob es sich um einen Krieg, einen Bürgerkrieg, einen Aufstand oder eine andere Form eines Konflikts handelt, wenn die involvierten Parteien immer auch daran interessiert sind, die Definition ihren Interessen entsprechend zu beeinflussen?“, fragt Lee. „Deshalb wollen wir die Möglichkeit einer systematischen Definition von Konflikten liefern und damit die Grundlagenforschung in den Sozial-, Politik- und Geschichtswissenschaften unterstützen.“

Zur Person

Eddie Lee studierte Physik an der Cornell University und der Princeton University in den USA und war Postdoctoral Fellow am Santa Fe Institute. Der Wissenschaftler mit Fokus auf eine Physik des kollektiven Verhaltens ist seit 2021 am Complexity Science Hub (CSH) Wien tätig.

Armed Conflict Location
Räumliche und zeitliche Verteilung der im Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) erfassten Konfliktereignisse von 1997 bis 2019 in Afrika. Jeder Punkt ist ein Ort, an dem ein Konflikt gemeldet wurde. Die drei Regionen Nordost-Nigeria, Ägypten und Burundi zeigen die monatliche Häufigkeit gemeldeter Konfliktereignisse. © Niraj Kushwaha, Edward D Lee: Discovering the mesoscale for chains of conflict, PNAS Nexus 2023

Lange Datenzeitreihe zu Konflikten in Afrika

In einer kürzlich im Journal PNAS Nexus erschienenen Studie wendeten Lee und sein Kollege Niraj Kushwaha am CSH ihren Ansatz auf Konflikte am afrikanischen Kontinent an – aus dem einfachen Grund, dass hier der Datenbestand am weitesten zurückgeht und am umfangreichsten ist. Etwa 200.000 Ereignisse aus den Jahren 1997 bis 2019 sind darin verzeichnet. Diese Daten werden von den Komplexitätsforschenden in einer Weise genutzt, die trotz eines möglicherweise enthaltenen Bias valide Ergebnisse bringen soll.

„Keine Konfliktdaten sind vollkommen unvoreingenommen und neutral. Einer der Vorteile unseres Ansatzes ist, dass er vergleichsweise unsensibel gegen diesen enthaltenen Bias ist“, erklärt Lee. „Unser Blick auf die Daten ist eher grob aufgelöst. Wir verwenden keine Details über das, was vorgefallen sein soll. Wir extrahieren nur, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ein Konflikt gemeldet wurde.“

Die Forscher haben diese Datenpunkte nun in einem mathematischen Verfahren systematisch miteinander in Relation gesetzt, um daraus neue Erkenntnisse ableiten zu können. „Zentrale Fragen sind: Wenn wir Events an einem Ort haben, hängen sie mit der Entstehung weiterer Events an einem anderen Ort zusammen? Kann ich aus den Mustern, die hier entstehen, mit hoher Sicherheit sagen, dass es eine kausale Verbindung zwischen den Events gibt?“, beschreibt der Wissenschaftler. „Das erinnert ein wenig an die Art, wie Neurolog:innen das Gehirn studieren. Dort sind die untersuchten Events allerdings die Aktivität von Neuronen, die gemeinsam ebenfalls Muster ergeben. Und auch hier werden kausale Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gehirnaktivitäten untersucht.“

Was weiß die Zukunft von der Vergangenheit?

Eine Grundlage von Lees Modell ist die Informationstheorie des US-amerikanischen Mathematikers Claude Shannon aus den 1940er-Jahren, der die Übertragung von Nachrichten mithilfe statistischer Mittel ganz grundlegend betrachtet. „Der Begriff von Kausalität, den wir in unserem Ansatz nutzen, ist von der Frage geprägt, wie sich Information aus der Vergangenheit in die Zukunft übersetzt“, erklärt Lee. „Anders gesagt: Wie viel die Zukunft von der Vergangenheit weiß, ist unser Maß für Kausalität.“

In einem Detailergebnis, das in der Studie diskutiert wird, legten die Daten nahe, dass Ereignisse in Sierra Leone mit Aktivitäten im benachbarten Liberia zu tun haben. „Das war insofern überraschend, als es tatsächlich Anschuldigungen gibt, wonach es verdeckte Aktivitäten von Soldaten aus Sierra Leone in Liberia gab“, sagt Lee. Gleichzeitig zeigt die Methode aber, dass ebenfalls verdächtige Aktivitäten in Sierra Leone nicht mit diesem Konflikt in Zusammenhang zu stehen scheinen.

Eine wichtige Frage im Betrachten der offenbarten Relationen ist, auf welcher Skala sie sich abspielen. Betrachtet man einzelne Ereignisse in einem lokalen Bezugsrahmen oder das überregionale Muster, das von einer Vielzahl von Events geprägt ist? „Lokale Konflikte sind oft in größeren Zusammenhängen begründet“, veranschaulicht Lee. „Die Idee ist also, zwischen verschiedenen Ebenen wechseln zu können, um zu sehen, wie diese interagieren und was letztendlich die Konflikte antreibt. Man kann sich das Prinzip als eine Art Mikroskop vorstellen, mit dem man tief in die Wirren eines Krieges hineinblicken kann.“

Eine Lawine der Gewalt

Als besonders aussagekräftig hat sich eine „Mesoscale“, also eine mittlere Zoomstufe in das Konfliktnetzwerk, erwiesen. Es betrifft Ereignisketten, die sich innerhalb von Tagen, Wochen oder Monaten in einer räumlichen Größenordnung von maximal einigen Hundert Kilometern abspielen. Hier können in der Ausbreitung von Konflikten aussagekräftige Kaskadeneffekte betrachtet werden. Es zeigt sich etwa, dass sich die Gewalt ausgehend von einem Epizentrum wie eine Lawine ausbreiten kann.

Es wäre nun naheliegend, ein Rechenmodell dieser Art auf aktuelle Konflikte wie den Krieg in der Ukraine oder jenen in Nahost zu übertragen. Doch Lee winkt ab. „Was wir hier machen, ist Grundlagenforschung. Wir wollen helfen, Konflikte in Zukunft besser klassifizieren zu können, und beispielsweise herausfinden, welche Arten von Bürgerkriegen es gibt“, erklärt der Wissenschaftler. „Der Blick auf aktuelle Konflikte, die naturgemäß polarisieren, könnte diesem Ziel abträglich sein.“

Eddie Lees Forschungen zum Thema „Skalenverhalten und Mikromechanismen bewaffneter Konflikte“ werden vom Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen des ESPRIT-Programms mit 298.000 Euro gefördert.

Publikationen

Kushwaha N., Lee E. D.: Discovering the mesoscale for chains of conflict, in: PNAS Nexus, Vol. 2/7 2023

Lee E. D., Daniels B. C. et al.: Scaling theory of armed-conflict avalanches, in Physical Review 2020