Koloniale Wurzeln moderner Entwicklungspolitik

Der Beginn der Entwicklungshilfe wird landlĂ€ufig mit dem Anfang des Kalten Krieges und der Rede des US-amerikanischen PrĂ€sidenten Harry S. Truman vor den Vereinten Nationen im Jahr 1946 angesetzt. Weniger bekannt ist, wie sehr bereits die koloniale Ordnung in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts von Diskursen und Politiken rund um das Thema Entwicklung geprĂ€gt war. Dies hat nun ein Team um den Historiker Walter Schicho von der UniversitĂ€t Wien im Rahmen eines FWF-Projektes aufgezeigt. In einer umfassenden historischen Analyse haben die Forscherinnen und Forscher das Thema âEntwicklungâ bis zum Ersten Weltkrieg zurĂŒckverfolgt und dabei mehr KontinuitĂ€t als BrĂŒche zutage gefördert.
Koloniale Denk- und Erfahrungswelten
Ihren Forschungsfokus legten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter auf französische und britische Kolonien in Afrika. Bereits in den 1920er und 30er Jahren begannen die beiden gröĂten KolonialmĂ€chte in Afrika, Frankreich und GroĂbritannien, Kolonialismus ĂŒber Entwicklung zu legitimieren. Es wurde verstĂ€rkt in die Wirtschaft und Infrastruktur der Kolonien investiert. âSchon damals setzte sich der Entwicklungsbegriff sowohl in der kolonialen BĂŒrokratie wie auch in einer breiteren Ăffentlichkeit durchâ, erklĂ€rt Martina Kopf vom Projektteam. Die Afrikawissenschafterin hat gemeinsam mit Walter Schicho, dem Historiker und Entwicklungsforscher Gerald Hödl und zwei Diplomstudierenden insgesamt rund 40 Wochen in Archiven und Bibliotheken sowohl in England und Frankreich als auch in Tansania und Senegal verbracht. Dabei haben sie eine FĂŒlle an Daten aus offiziellen Dokumenten, aus Berichten, aber auch aus ErzĂ€hlungen von Beamten, Lehrern und Missionaren â Frauen wie MĂ€nnern â erhoben. Anhand der historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Analysen dieser Daten liefern die Wiener Forscherinnen und Forscher ein differenziertes Bild des Kolonialismus aus einer bisher wenig beachteten Perspektive. Die Ergebnisse tragen dazu bei, die Wurzeln moderner Entwicklungspolitik in Afrika besser zu verstehen. âWir fanden in Berichten von Kolonialbeamten der Zwischenkriegszeit Zeugnisse eines Engagements, das auf Ă€hnliche Weise die heutige Entwicklungszusammenarbeit prĂ€gt. Da ging es, mit heutigen Begriffen gesprochen, um fairen Handel, nachhaltige Entwicklung oder Hilfe zur Selbsthilfeâ, so Kopf.
Interaktion zwischen Europa und Afrika
Entwicklung wurde, Ă€hnlich wie heute, mit wirtschaftlichem Nutzen der Metropolen London und Paris mit einem von Europa aus geplanten und gesteuerten Fortschritt der Kolonisierten verbunden. Beide kolonialen MĂ€chte, Frankreich und GroĂbritannien, verfolgten sehr Ă€hnliche Strategien. Im Vordergrund standen fĂŒr sie die Nutzung der Ressourcen, die Disziplinierung der Bevölkerung, ihre teilweise Modernisierung beziehungsweise EuropĂ€isierung und die Bildung einer lokalen Elite. â Wobei Frankreich immer wieder britische Strategien kopierte und zum Beispiel im Bildungswesen anglo-amerikanische Modelle ĂŒbernahm. Diese frĂŒhen Formen der âEntwicklungshilfeâ waren prĂ€gend fĂŒr die Interaktionen zwischen EuropĂ€ern und Afrikanern.
RĂŒckschlĂŒsse auf heute
Charakteristisch fĂŒr die Geschichte kolonialer Entwicklung sei der krasse Unterschied zwischen Diskurs und Handeln, eine Eigenschaft, die auch postkoloniale Entwicklungsregime kennzeichne, stellen die Wiener Forscherinnen und Forscher fest. âUns erstaunt immer wieder, wie kurz das historische GedĂ€chtnis ist, sowohl in der Entwicklungsforschung als auch in der Entwicklungszusammenarbeitâ, sagt Martina Kopf zu den RĂŒckschlĂŒssen, die sich aus den historischen Erkenntnissen auf die heutige Entwicklungszusammenarbeit ziehen lassen. âHundert Jahre an Ideen, MaĂnahmen und Interventionen im Namen von Entwicklung haben kein Gewicht in der Konzeption und Evaluierung gegenwĂ€rtiger Entwicklungsbeziehungenâ, so Kopf weiter.
Internationale Kooperationen
Zu einem Höhepunkt des FWF-Forschungsprojekts zĂ€hlte eine internationale Tagung in Wien mit Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zahlreicher Fachdisziplinen aus Europa, Afrika und Nordamerika. Ergebnis der daraus entstanden Netzwerke und Kooperationen ist der von Gerald Hödl, Martina Kopf und dem US-amerikanischen Historiker Joseph M. Hodge herausgegebene Band âDeveloping Africaâ. Es ist die erste internationale Buchpublikation, die Entwicklungsdiskurse und -praktiken der KolonialmĂ€chte GroĂbritannien, Frankreich und auch Portugal gegenĂŒberstellt und vergleicht, und stellt damit ein Grundlagenwerk fĂŒr das noch relativ junge Forschungsfeld der Kolonialgeschichte von Entwicklung dar. Dabei ist die Auswertung der gesammelten Dokumente lĂ€ngst nicht abgeschlossen und wird im Rahmen weiterer Arbeiten fortgesetzt. Unter anderem ist ein digitales Archiv zur Geschichte der österreichischen Entwicklungshilfe geplant.
Zur Person Univ.-Prof. Dr. Martina Kopf ist Afrika- und Literaturwissenschafterin. Im Rahmen des Projekts âDeveloping Africaâ recherchierte sie in Frankreich, England und Senegal und analysierte Kolonialpresse und -literatur der 1920er und 30er Jahre. Derzeit forscht Kopf ĂŒber Narrative von Entwicklung in Literatur und Film mit Schwerpunkt auf Kenia.
Publikationen zum Projekt
Joseph M. Hodge, Gerald Hödl, Martina Kopf (eds.): Developing Africa. Concepts and practices in twentieth-century colonialism, Manchester: Manchester University Press, 2014, 432 Seiten, ISBN: 978-0-7190-9180-3
Walter Schicho (Hg.) Kolonialismus und Entwicklung. Themenheft der Stichproben â Wiener Zeitschrift fĂŒr kritische Afrikastudien 26
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