Kinderarmut ist ungerecht
Nach einem Schultag heimkommen, eine warme Mahlzeit essen, einen ruhigen Platz für Hausaufgaben oder zum Lesen haben, ein Spiel spielen: Für Kinder, die von relativer Armut betroffen sind - wie es in Industrieländern bezeichnet wird -, ist das oft nicht selbstverständlich. Kinderarmut wird jedoch als privates Problem von Familien wahrgenommen. Die Möglichkeiten für Staat und Gesellschaft, daran etwas zu ändern, sind dadurch eingeschränkt. Im Forschungsprojekt „Soziale Gerechtigkeit und Kinderarmut“, das der Wissenschaftsfonds FWF förderte, hat ein Team unter der Leitung von Gottfried Schweiger, Philosoph und Senior Scientist am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg, die Perspektive gewechselt. Eine ihrer zentralen Fragen lautete: Ist Kinderarmut sozial ungerecht?
Theorie auf den Kopf gestellt
Aus dem Blickwinkel von sozialer Gerechtigkeit betrachtet, bekommt die Gesellschaft mehr Gewicht. Konkret: Wächst ein Kind in einer sozial gerechten Gesellschaft auf, kann es alle nötigen Fähigkeiten entwickeln, um als Erwachsener ein autonomes und „gutes“ Leben zu führen. Inwiefern unterbindet Armut in der Kindheit diese Entwicklung? Und wann ist die Benachteiligung zu groß, also ungerecht? Indem das Forscherteam den Fokus auf soziale Gerechtigkeit richtete, beschritten sie neues Terrain. Denn in der philosophischen Tradition der Vertragstheorien sind Kinder und Kindheit keine „Subjekte“, sondern von Erwachsenen bestimmte „Beherrschte“. Weil sie als Teil der Familie betrachtet wurden, wurde bis dato nie analysiert, was etwa Armut in der Kindheit von der Armut im Erwachsenenleben unterscheidet.
Schlecht versorgt
Um das Spezifische und die Tragweite von Kinderarmut zu verstehen, sind laut dem Philosophen Gottfried Schweiger zwei normative Begriffe zentral: Verletzbarkeit und Autonomie. Im Gegensatz zu Erwachsenen sind Kinder auf andere angewiesen, die für sie sorgen (sollen). Das macht sie verletzbar, was im Laufe der Entwicklung hin zum Erwachsenen jedoch abnimmt. Sind Kinder von Armut betroffen, ist die Sicherheit, versorgt zu sein, nicht gegeben. Das macht sie verletzlicher als andere. „Ihre Familien, ihr nahes Umfeld, und auch der Staat können sie nicht mit dem Notwendigen versorgen, wie ausreichend Nahrung, Kleidung oder Schutz vor Krankheit. Armut bewirkt, dass sie insgesamt weniger Schutz davor haben, nicht gut versorgt zu sein“, erklärt Schweiger im Gespräch mit scilog.
Das Leben bestreiten können
Die Entwicklung von Autonomie ist ebenfalls zentral. Unter günstigen Bedingungen bildet man bis zum Erwachsenenalter jene Fähigkeiten aus die es braucht, um eigene, auf vernünftigen Überlegungen basierende Ziele zu entwickeln und umzusetzen. „In Armut aufzuwachsen heißt, weniger Möglichkeiten zu haben, diese Autonomie auszubilden“, so der Forscher. Ethisch relevant sind die Unterschiede, wenn man für diese Kinder als gesellschaftliche Gruppe insgesamt zu wenig tun kann. Für seine theoretischen Überlegungen zu einer neuen Theorie zog das dreiköpfige Team aus Forscherinnen und Forschern eine relativ große Anzahl empirischer Studien heran. Den Schwerpunkt legten sie auf physische und psychische Gesundheit, Bildung sowie die Weitergabe von Armut über mehrere Generationen hinweg. Die philosophische Theorie zeigt nun erstmals den Zusammenhang von Kinderarmut und sozialer Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit auf.
Gesundheit ist zentral
Schweiger betont, dass sie „darlegen konnten, dass Kinderarmut ungerecht ist. Weil sie auf ungerechtfertigte Weise die Entwicklung von relevanten Fähigkeiten beschneidet.“ Diese sind aber nötig, um ein gutes und autonomes Leben zu führen. Was heißt das konkret? Ein Beispiel ist die physische und psychische Gesundheit. Studien zu psychischen Erkrankungen zeigen, dass das Risiko für Kinder, die von Armut betroffen sind, später an einer Depression zu erkranken, erhöht ist. Der Unterschied zu anderen Kindern, der aus Armut resultiert, sei laut Schweiger moralisch nicht vertretbar. Außerdem ist Gesundheit eine zentrale Voraussetzung, um andere Fähigkeiten entwickeln und in die Tat umsetzen zu können. Speziell bei Kindern müsse deshalb die Zukunftsperspektive und der Gerechtigkeitsaspekt integriert werden.
Familie nicht alleinverantwortlich
Die Forschenden stellten das Kind zudem ins Zentrum einer akteurszentrierten Theorie der Verantwortung. Macht, Nähe und Gewichtung waren zentrale Kategorien. So wurde sichtbar, wer für Kinderarmut direkt oder indirekt mitverantwortlich ist – jenseits der Familie. Die Verantwortung, etwas dagegen zu tun, liegt demnach etwa bei Unternehmen, dem Staat, Bildungsinstitutionen oder dem Gesundheitssektor. Indem Kinderarmut verhindert wird, haben alle Angehörigen eines Staates die gleiche Chance, sich zu einem autonomen Erwachsenen zu entwickeln. Alles andere ist – so die Quintessenz des Grundlagenprojekts – sozial nicht gerecht.
Zur Person Gottfried Schweiger ist seit 2013 am Zentrum für Ethik und Armutsforschung (ZEA) der Universität Salzburg beschäftigt. Der Philosoph befasst sich mit politischer Philosophie und Sozialphilosophie mit Fokus u.a. auf Armut, Gerechtigkeit sowie Kindheit. Schweiger engagiert sich zudem im Bereich Open Access: Er ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie, der ersten Open-Access-Zeitschrift in diesem Fachgebiet, Associate Editor von Palgrave Communications und Mitgründer des Open-Access-Philosophieverlags [dyo].
Mehr Informationen Projektwebsite Social Justice and Child Poverty Netzwerk Philosophie & Kindheit
Publikationen