Weltkrieg 1914. Deutsche Trainfahrzeuge auf dem Weg ins östliche Feindesland. Der Erste Weltkrieg in Osteuropa brachte völlig andere Kriegserfahrungen mit sich als jene an der West- oder Italienfront, wie ein FWF-Projekt zeigt. © Deutsches Bundesarchiv, Bild 183-S34205 / CC-BY-SA

Schützengräben und erstarrte Fronten –, diese beiden Metaphern formen bis heute die Vorstellung vom Ersten Weltkrieg. Der Historiker Wolfram Dornik weiß, dass dies eine zu einseitige Perspektive ist: „Diese Bilder stammen vor allem von der damaligen Westfront – dem Fokus des deutsch-, französisch- und englischsprachigen Blicks auf den Ersten Weltkrieg vor und nach 1918. Mit dem FWF-Projekt konnten wir diesen einseitigen Blick maßgeblich ergänzen“, betont der Wissenschafter. Ein wesentliches Fazit der umfangreichen Studie ist: Der Krieg an der Ostfront war weniger entmenschlicht und industrialisiert und viel dynamischer.

Weites Land und andere Unterschiede

Schon die äußeren Umstände bewirkten diese Unterschiede: Die Ostfront war deutlich länger als jene gegen Frankreich oder Italien – und damit auch viel schwieriger zu befestigen. Kampfhandlungen erfolgten oft unmittelbarer oder an wenigen schwer gesicherten Orten. Frontabschnitte verschoben sich regelmäßig. Gleichzeitig gab es im Gegensatz zur Westfront lange Kampfpausen, was für die Soldaten oft den Eindruck einer „ruhigeren“ Front mit sich brachte, insbesondere bei jenen, die von der Isonzo- oder der Alpenfront kamen. Doch fehlte es auch in Osteuropa nicht an riesigen Schlachten mit hunderttausenden Toten, Verwundeten oder Kriegsgefangenen. Die Folge dieser militärischen Dynamik: Riesige besetzte Gebiete der gegnerischen Nationen. In diesen führten die Vielsprachigkeit und die unterschiedlichen religiösen Ausprägungen zu heftigen Reaktionen der Beteiligten. „Speziell Soldaten, die aus einer homogenen Gesellschaft im westlichen Teil der Habsburgermonarchie kamen, reagierten darauf sehr sensibel. Misstrauen, Unverständnis und Gewalt gegenüber Zivilisten waren das Ergebnis“, erklärt Dornik. Dabei konnte das Forschungsteam die Verstärkung von Antisemitismus, Antislawismus und anderen radikalen Diskursmustern feststellen. „In der Tat hatte dies entscheidenden Einfluss auf den Diskurs über den 'Osten' in den Jahren zwischen den Weltkriegen. Der Einfluss osteuropäischer Kriegserfahrungen habsburgischer Soldaten auf die zentraleuropäische Gesellschaft darf aus diesem Grund nicht unterschätzt werden“, betont Dornik.

Widrige Witterung und harte Natur

Neben den zwischenmenschlichen Erlebnissen hinterließ aber auch die Natur einschneidende Erinnerungen bei den Soldaten. Hier dominierten lange Winter mit schweren Schneefällen, verschlammte oder schlecht ausgebaute Straßen, weite Ebenen und schier endlose Wälder, riesige Sümpfe und hohe Gebirge. Organisationstalent der Armeeführung war hier genauso gefordert wie physische und psychische Belastbarkeit der Soldaten. Gleichzeitig, so Dornik, habe der geradezu endlos wirkende Raum des „Ostens“ auch bei einfachen Soldaten koloniale Fantasien geweckt.

Multinationale Perspektiven

Grundlage der Untersuchungen waren von Soldaten selbst erzeugte schriftliche und bildliche Quellen: Fotos, Tagebücher und Notizen sowie Erinnerungen. Dieser Zugang machte besondere Anstrengungen notwendig, wie Wolfram Dornik ausführt: „Sowohl das Russische wie auch das Habsburger Reich waren multilinguale Gesellschaften. Unsere Quellen lagen also in vielen Sprachen vor. – Mit über 20 Expertinnen und Experten aus Mittel- und Osteuropa konnten wir diese Vielfalt bewältigen.“ Das Forschungsteam musste auch die fragmentierten historiografischen Traditionen und Erinnerungskulturen von fast einem Jahrhundert überbrücken, um ein gemeinsames Diskussionsfeld zu schaffen. Denn nach dem Zerfall der großen Reiche nach 1917/18 dominierte der neue Staatsgründungsmythos. Hier überlagerten der Kampf gegen das vorherige Reich und die noch größere, folgende Katastrophe – der Zweite Weltkrieg und die Shoa – die Erinnerung an die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Wie sehr sich die Mühen der Grundlagenforschung lohnten, konnte das Team noch vor Projektende mit der Publikation des Sammelbandes „Jenseits des Schützengrabens“ zeigen. In dem international viel beachteten Buch wurden erste Ergebnisse zusammengefasst . Für Wolfram Dornik ein guter und wichtiger Zwischenschritt des mittlerweile mit weiteren Veröffentlichungen beendeten Projekts.


Zur Person Der Historiker Wolfram Dornik forscht am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz. Er ist Mitinitiator des „Forum: Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg“ und war von 2011-2015 wissenschaftlicher Leiter des Museum im Tabor in Feldbach; mit September 2015 übernimmt er die Leitung des Grazer Stadtarchivs. Einige seiner zahlreichen Forschungsschwerpunkte sind Aspekte des Ersten Weltkriegs, Kriegsgefangenschaft, Erinnerung und Gedächtnis, Museologie und Steirische Regionalgeschichte.


Publikation

Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, B. Bachinger, W. Dornik (Hg.), 2013, Studienverlag, ISBN 978-3-7065-5249-3.
Frei zugängliche Open-Access-Version (pdf-Download): http://www.studienverlag.at/material/STV/OpenAccess/5249_Schutzengraben_openaccess.pdf

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