Betroffene der Überflutungen im Oktober 2010 ruhen sich im Khandar Flüchtlingscamp in Nowshera, Pakistan aus. © Shutterstock

Die Gretchenfrage „Wie hast du’s mit der Religion?“, spielt nicht nur in Goethes Faust, sondern auch in der humanitären Hilfe eine Rolle. Für die Wirkung, für das Spendenaufkommen und für das Ansehen der Arbeit weltweit kann es einen Unterschied machen, ob eine Hilfsorganisation einen religiösen Hintergrund hat oder säkular ist. Die Soziologin Zeynep Sezgin vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien wollte wissen, welche Strategien humanitäre NGOs mit religiösem Hintergrund haben, um Legitimität zu erlangen. Im Rahmen des Lise-Meitner-Programms des Wissenschaftsfonds FWF hat sie sich zwei muslimisch und eine christlich geprägte Hilfsorganisation genauer angesehen. „Alle drei Fallstudien haben ihren Hauptsitz in Ländern des Globalen Nordens, konkret in Deutschland und Österreich, leisten ihre humanitäre Hilfe jedoch in verschiedenen Krisengebieten im Globalen Süden. In diesen unterschiedlichen Kontexten sind sie mit komplexen und bisweilen widersprüchlichen Erwartungen verschiedener Akteure konfrontiert. Ich habe untersucht, wie sie darauf reagieren“, erklärt die Soziologin im Gespräch mit scilog. Es zeigt sich: Um professionelle humanitäre Arbeit sicherzustellen, Spenden zu akquirieren, Zugang zu hilfsbedürftigen Menschen zu erlangen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krisengebieten zu schützen und sich im kompetitiven Umfeld von Hilfsorganisationen zu behaupten, verfolgen die drei Organisationen Caritas, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş und Muslime Helfen oft ähnliche Strategien.

Humanitäre Prinzipien als Goldstandard

In anonymisierten Interviews sprach Zeynep Sezgin mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren der drei Organisationen, mit Behörden in Österreich, Deutschland und Pakistan sowie säkularen Hilfsorganisationen (Rotes Kreuz und Médecins Sans Frontières). Bei zwei Forschungsaufenthalten nach schweren Überflutungen in Pakistan (2010 und 2011) befragte die Wissenschafterin auch lokale humanitäre Organisationen, Führungsfiguren und die lokale Bevölkerung im Khyber Pakhtunkhwa. „In meinen Interviews zeigte sich, dass säkulare Hilfsorganisationen sich für Bannerträger der humanitären Hilfe halten. Gegenüber humanitären Nichtregierungsorganisationen mit religiösem Hintergrund sind sie skeptisch, weil diese in vielen Fällen anders und nicht notwendigerweise gemäß den humanitären Leitprinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit arbeiten. Seit 9/11 und dem ‚War on Terror‘ hat diese Skepsis auch bei Geldgebern und Behörden in den Ländern des Globalen Nordens zugenommen“, sagt Zeynep Sezgin. Die Soziologin warnt jedoch vor Generalisierungen und sieht viele Gemeinsamkeiten in der humanitären Arbeit: „Die untersuchten Organisationen müssen eine Vielfalt von Erwartungen bewältigen, um einsatzfähig zu bleiben. Um die Interessen ihrer Organisation zu wahren, vereinen sie im Zuge ihrer humanitären Arbeit sowohl religiöse als auch säkulare Elemente.“ Alle Aktivitäten erfolgen unter Einhaltung nationaler und internationaler Gesetze (regulatorische Strategie). Alle drei NGOs handeln im Sinne ihrer Mission mit dem Ziel, durch Wissen, Fähigkeiten und Fachexpertise der Mitarbeitenden Zugang zu Menschen in Not zu erlangen (kognitive Strategie). Als ergebnisorientierte Strategie bezeichnet die Forscherin die Fähigkeit, den Stakeholdern aufzuzeigen, dass die Mission der Organisation umgesetzt wurde, beispielsweise mittels erfolgreicher, transparenter Kommunikationsstrukturen.

Standardisierung am Hilfsmarkt

Jede Hilfsorganisation, ob neu oder traditionell, religiös oder säkular, buhlt um Aufmerksamkeit, Ressourcen und Glaubwürdigkeit. Die Soziologin beobachtet daher eine erwartungsgetriebene Standardisierung. „Die Organisations-Strategien vieler humanitärer NGOs gleichen sich immer mehr an. Wir beobachten keine wirklich neuen oder parallelen humanitären Systeme, sondern sich verschiebende Netzwerke diverser Akteure.“ Alle gemeinsam versuchten den Bedarf an Hilfe abzudecken, würden sich aber in der Konkurrenz um Ressourcen gegenseitig behindern, erklärt Zeynep Sezgin. Wie Schutz und Hilfe genau aussehen sollen, wird immer wieder diskutiert. Besonders, wenn Skandale rund um Hilfseinsätze öffentlich werden. „Den meisten Menschen, die ich in Pakistan interviewt habe, ist der konfessionelle Hintergrund der Organisation egal: Sie wollen, dass Hilfe nach Bedürftigkeit erfolgt und nicht aufgrund guter politischer Beziehungen“, betont die Soziologin.  „Sie bevorzugen ein langfristiges Engagement sowie Respekt vor den lokalen Traditionen und ihrer Kultur.“ Und auch die Spenderinnen und Spender eint der Wunsch, dass Menschen in Not geholfen wird. NGOs mit religiösem Hintergrund könnten in diesem Kontext neue Blickwinkel einbringen, ist Sezgin überzeugt.


Zur Person Zeynep Sezgin ist Postdoc und Lehrende am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien. Sie studierte Internationale Beziehungen an der University of Bilkent (Türkei), Politikwissenschaft an der University of Guelph (Kanada) und promovierte in Soziologie an der Universität Leipzig (Deutschland). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrationsprozesse, Transnationalisierung und Organisationssoziologie sowie humanitäre NGOs und Entwicklungspolitik.


Publikationen

Sezgin, Z. und Dijkzeul, D. (Hg.): The New Humanitarians in International Practice: Emerging Actors and Contested Principles, Routledge 2016
Sezgin, Z. und Dijkzeul, D.: Migrant Organizations in Humanitarian Action, Journal of International Migration and Integration 2013
Sezgin, Z. und Dijkzeul, D.: Bridging Diverse Expectations in Germany and Pakistan: The Transnational Legitimization Strategies of Caritas, in: M. Maletzky, M. Wannöffel and M. Seeliger (Hg.) Arbeit, Organisation und Mobilität: Eine grenzüberschreitende Perspektive, Campus 2013