Geschlechterungleichheit schreibt sich bis ins Alter fort und das über Generationen, wie aktuelle Untersuchungen aus Europa zeigen. Daran ändern auch Pflegemodelle bislang noch nichts. © Micheile Dot Com/Unsplash

In Industrienationen steigt die Zahl der Pflegekräfte deutlich geringer als der Bedarf an Pflegepersonal. Die Politik ist gezwungen, ein Pflegepaket nach dem anderen zu schnüren. Erst im Mai 2022 beschloss der Nationalrat einen Zuschuss von 570 Millionen Euro für die Gehälter des Pflegepersonals in Österreich in den Jahren 2022 und 2023. Allerdings wird die Pflege von einer anderen Seite in noch höherem Ausmaß subventioniert: 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause von Angehörigen gepflegt, zum weit überwiegenden Teil von Frauen. Der Gendergap in Bezug auf Gesundheit und Pflege ist bekannt. Weniger bekannt ist, ob und wie er sich verändert. Dieser Frage sind Wissenschaftler:innen im Rahmen des internationalen Projekts FutureGEN, das vom Wissenschaftsfonds FWF kofinanziert wurde, nachgegangen. Die Koordination lag beim Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien, ebenfalls beteiligt waren Universitäten in Kanada und Schweden.

Die Wissenschaftler:innen untersuchten die Felder Gesundheit und Pflege. „Beide Themen sind von einem deutlichen Gendergap geprägt“, sagt Ricardo Rodrigues, Projektkoordinator am Europäischen Zentrum und Wissenschaftler an der Universität Lissabon. „Frauen leben länger als Männer, haben aber einen geringeren Anteil an gesunden Lebensjahren. Sie sind vor allem im Alter deutlich kränker als Männer.“ Zusätzlich sei es bei Frauen sehr viel wahrscheinlicher, dass sie kranke Angehörige pflegen. „Das ist gut erforscht. Wir wollten uns aber anschauen, ob sich da etwas ändert.“ Menschen, die heute in ihren Fünfzigern sind, leben anders als ihre Eltern in diesem Alter. Das Lebensjahrzehnt zwischen 50 und 60 gilt als besonders spannend, weil sich die Pflege von Angehörigen statistisch auf diesen Zeitraum konzentriert.

Männer werden älter und kränker

Die Wissenschaftler:innen suchten in Europa nach bestehenden Datensätzen für ihre Forschung. Sie wurden fündig und begannen, die Ergebnisse in den Alterskohorten zu vergleichen. So verglichen sie beispielsweise die Gesundheit von heute 50- bis 60-Jährigen mit der Gesundheit von heute 70- bis 80-Jährigen, als diese 50 Jahre alt waren.

„Wir hatten einige Hypothesen“, sagt Rodrigues. „Wir gingen davon aus, dass es in der Frage der Gesundheit eine Angleichung geben wird. Das ist auch eingetreten.“ Das heißt aber leider nicht, dass alle gesünder sind. Männer hohen Alters sind statistisch gesehen kränker als früher und nähern sich den Frauen an. Ein möglicher Grund ist, dass Männer mittlerweile Krankheiten überleben, an denen sie vormals schon wesentlich früher gestorben sind. „Es überlebt ein deutlich höherer Anteil an Menschen bis ins hohe Alter“, ergänzt Rodrigues. „Wir sind gut darin, Menschen länger am Leben zu erhalten. Wir sind aber nicht gut darin, sie auch gesund zu halten.“

Regionale Unterschiede

Da die Datensätze aus verschiedenen Regionen in Europa kommen, lassen sich auch regionale Unterschiede benennen. In Nord- und Westeuropa ist das grundsätzliche Muster ähnlich: Sowohl Frauen als auch Männer leben länger, sind aber nicht gesünder. Es gab allerdings eine Ausnahme: In Osteuropa ist die jüngere Kohorte an Frauen gesünder als jene der vorangegangenen Generation. „Wir können anhand dieser Daten nicht sagen, was der Grund dafür sein könnte“, sagt Rodrigues. Eine der möglichen Erklärungen: Osteuropäische Gesellschaften könnten generell ein größeres Maß an Gleichheit (also punkto Einkommen, Bildung etc.) erzielt haben, das hätte sich auf die Gesundheit ausgewirkt. Dass das nur in Osteuropa passierte, könnte sich dadurch erklären, dass Regionen wie West- und Nordeuropa schon vorher an diesem Punkt waren. „Wenn das so ist, dann müsste dieser Effekt auslaufen“, so Rodrigues. Insgesamt variierten die Muster der Gesundheit im Alter jedoch stärker nach Geschlecht, Alter und Region als nach Kohorte.

Im Bereich der Pflege sind die Ergebnisse ernüchternd. Die Forscher:innen hatten zwei Hypothesen: Weil Frauen heute häufiger am Arbeitsmarkt teilnehmen, müsste sich der Anteil an Frauen zwischen 50 und 60, die Angehörige pflegen, verringert haben. Und es wurde erwartet, dass Männer einen Teil dieser Pflege übernehmen, wie es beispielsweise bei der Kinderbetreuung mittlerweile der Fall ist.

Es hängt nach wie vor an den Frauen – weitgehend

Die erste Hypothese bestätigte sich nicht. Der Anteil von Frauen in ihren Fünfzigern, die Angehörige pflegten, war genauso hoch wie in der älteren Kohorte im selben Lebensalter, obwohl gleichzeitig der Anteil derer, die arbeiteten, zunahm. Bei der zweiten Hypothese ist es komplizierter: Männern in ihren Fünfzigern und Sechzigern übernehmen weiterhin keinen relevanten Anteil der Pflege. Das ändert sich aber im hohen Alter. „Eine logische Erklärung wäre, dass Männer, die mittlerweile älter werden, ihre Frauen im Alter pflegen“, erläutert Rodrigues. „Aber die Pflege der Eltern, die außerhalb der eigenen vier Wände stattfindet, wird weiter von Frauen geleistet.“ Bei diesen Ergebnissen gab es leichte Unterschiede zwischen den Regionen in Europa, die Forschenden hätten diese aber deutlich höher eingeschätzt. „Die gesetzlichen Pflegemodelle in den verschiedenen Regionen sind sehr unterschiedlich.“ Dass der Trend überall derselbe sei, deute darauf hin, dass Policy in dieser Frage keinen so großen Einfluss habe wie Demografie.

„Für die Politik ist die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis, dass unsere längere Lebenszeit bis jetzt nicht mit besserer Gesundheit einhergeht“, meint Rodrigues. Das sei relevant, um den zukünftigen Pflegebedarf abschätzen zu können. Außerdem scheint es wahrscheinlich, dass Frauen weiter in der Pflege von Angehörigen tätig sein werden. Es zeige, so der Experte, dass die Angst vor einem „grauen Tsunami“ und vor nicht zu bewältigenden Pflegekosten übertrieben sei, die Kosten in Bezug auf die Geschlechter(un)gerechtigkeit aber sehr wohl sehr hoch seien.


Zur Person

Ricardo Rodrigues war stellvertretender Direktor des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien und ist jetzt Professor an der Universität Lissabon. Er absolvierte einen Master in Volkswirtschaftslehre an der Universität Lissabon und einen PhD in „Social Policy and Social Work“ an der Universität York. Rodrigues war als Experte für alternde Gesellschaft, Pflege und Gesundheit an zahlreichen Forschungs- und EU-Projekten beteiligt. Das 2019 bis 2022 durchgeführte internationale Projekt „Geschlechterdisparitäten bei Krankheit & Pflegebedürftigkeit“ (FutureGEN) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 268.000 Euro gefördert.


Publikationen

Fors S., Illinca S., Jull J. et al.: Cohort-specific disability trajectories among older women and men in Europe 2004–2017, in: European Journal of Ageing 2022

Ilinca S., Rodrigues R., Fors S. et al.: Gender differences in access to community-based care: a longitudinal analysis of widowhood and living arrangements, in: European Journal of Ageing 2022

Augustsson E., Rehnberg J., Simmons C. et al.: Can Sex Differences in Old Age Disabilities be Attributed to Socioeconomic Conditions? Evidence from a Mapping Review of the Literature, in: Journal of Population Ageing 2022