Lese- und Rechtschreibschwächen können auch unabhängig voneinander auftreten, wie Grazer EntwicklungspsychologInnen herausgefunden haben. © Pixabay

Seit Maria Theresia 1774 die allgemeine Unterrichtspflicht eingeführt hat, sollten alle Kinder in Österreich Lesen und Schreiben lernen. Ebenfalls weit zurück, rund 100 Jahre, reichen Forschungen zur Legasthenie, der Lese- und Rechtschreibstörung. Diese Lernstörung macht vielen Eltern und Kindern den Schulalltag schwer. Im Schnitt sind pro Schulklasse ein bis zwei Kinder betroffen. Das Lehrpersonal in Volksschulen ist heute dementsprechend sensibilisiert, Legasthenie-Tests, -Trainings und -Kursprogramme sind verbreitet. Lange ging man davon aus, dass die beiden Schwächen stets gemeinsam auftreten. In jüngster Zeit mehren sich aber die Hinweise, dass nicht alle Kinder, die Probleme beim Lesen haben, sich auch mit Rechtschreibung schwertun und umgekehrt. So steht es auch im aktuellen Diagnosemanual (ICD11) der Weltgesundheitsorganisation WHO. „Wir fanden es spannend, dass es Kinder gibt, die wissen wie man Wörter schreibt, sich aber dennoch mit dem Lesen abmühen“, erklärt Entwicklungspsychologin Karin Landerl von der Universität Graz. Intuitiv würde man glauben, dass Lesen einfacher ist: Die einzelnen Buchstaben werden zusammen gelautet und man muss zunächst nicht wissen, wie ein Wort geschrieben wird. Einfache Begründungen gehen an den Ursachen der verschiedenen Lernstörungen jedoch vorbei.

Material & Methodenvielfalt für komplexe Fähigkeiten

Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben sind – in Hinblick auf die Menschheitsgeschichte – noch junge kognitive Fähigkeiten, die in unterschiedlichen Arealen des Gehirns verarbeitet werden. Ein Forschungsteam von den Universitäten in München und Graz hat sich in einem kurz vor Abschluss stehenden gemeinsamen Projekt, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, Gehirnfunktion und Verhalten bei der Schriftsprach-Verarbeitung genau angesehen. Die gekoppelte Forschung war unter anderem notwendig, um aussagekräftige Stichproben zu rekrutieren.

Beispielzeile aus dem Eye-tracking-Paradigma: Die blauen Kreise bilden die Fixationen eines leseschwachen Kindes beim lauten Lesen ab (je größer der Kreis, desto länger die Fixationsdauer). © Karin Landerl/Uni Graz

Untersucht und verglichen wurden vier Gruppen, insgesamt rund 200 Kinder zwischen der 3. und 4. Schulstufe. Je ein Viertel der Untersuchten zeigte eine altersgemäße Entwicklung bei Lesen/Rechtschreibung (Kontrollgruppe), eine kombinierte Lese- und Rechtschreibschwäche oder nur eine der beiden Schwächen. Ein Jahr wurde allein an der Entwicklung präziser und kinderfreundlicher Testmethoden gearbeitet. Das Screening von 4.000 Kindern nahm ein weiteres Jahr in Anspruch. Die eigentliche Datenerhebung erfolgte zum einen mit Standardtests, zum anderen mit Material, das passgenau für experimentelle Annahmen entwickelt wurde. Verhalten und strukturelle/funktionale Gehirnverarbeitung wurden mit drei Methoden erfasst: Eye-Tracking (Augenbewegungen), EEG und Magnetresonanz-Tomografie.

Wörterbuch vorhanden, Zugriff erschwert

Bisherige Erklärungen für die Leseschwäche fußten auf der Annahme, dass die Kinder sich nicht merken, wie die Wörter aussehen. Es würde kein „Wörterbuch“ im Gehirn angelegt auf das sie zugreifen können, sodass jedes Wort immer neu und lautierend erlesen werden muss. „Die Annahme, dass die Kinder in dieser Leseanfänger-Strategie steckenbleiben, lässt sich nicht halten. Auch leseschwache Kinder bauen ein Schriftwortlexikon auf, nützen es aber nicht sehr gut“, beschreibt Karin Landerl im Gespräch mit scilog. Zuletzt ist zu diesem Thema ein Beitrag im „Journal of Experimental Child Psychology“ erschienen.

Tests mit echten und künstlichen Worten

Untersucht wurde dieser Zusammenhang mit echten Wörtern und Pseudo-Hormophonen: „Letztere klingen wie ein existierendes Wort, sehen aber nicht so aus, etwa Vater geschrieben mit F. Wenn nur lautiert würde, würden wir keinen Unterschied sehen. Aber auch leseschwache Kinder zeigten hier Verarbeitungsunterschiede. Sie sehen länger hin und die Lesezeiten sind messbar erhöht“, erklärt die erfahrene Entwicklungspsychologin, die sich seit ihrer Diplomarbeit mit Lernstörungen befasst. Im Gehirn der Kinder mit Lese- und/oder Rechtschreibstörungen zeigen sich klare Auffälligkeiten in Struktur und Funktion, die schon vor der Geburt angelegt wurden: „Das bedeutet auch, dass man ‚quick fix’-Therapien ad acta legen kann. Zwei Monate intensiv üben und fertig, funktioniert nicht. Es ist eine ernsthafte Beeinträchtigung, die Kinder dauerhaft begleitet und mit der sie umgehen lernen müssen.“

Erkenntnisse für Diagnose und Therapie

Das Team hat Empfehlungen für Diagnose und Unterstützung erarbeitet: „Wenn man die schriftsprachlichen Leistungen eines Kindes feststellen will, muss man immer beides anschauen. Wenn nur ein Rechtschreibtest durchgeführt wird, könnte eine isolierte Leseschwäche übersehen werden“, betont Landerl. Ganz generell gilt: Erfahrung hilft. Wobei Lesen durch Lesen besser wird und Rechtschreibung durch Rechtschreiben. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die Motivation aufrecht zu erhalten und die Kinder bei der Stange zu halten mit ansprechenden Förderstunden, damit sie im eigenen Tempo den Weg in die Schriftsprache finden. Im deutschsprachigen Raum gab es ab den 1970er-Jahren eine starke Anti-Legasthenie-Bewegung, die Lese- und Rechtschreibschwäche als Erfindung der Mittelschicht abtat. Von dem folgenden Rückschlag haben sich Deutschland und Österreich noch nicht erholt. Karin Landerl umschreibt die Bedeutung von Forschung und Lehre so: „Wir müssen spezifisch und evidenzbasiert daran arbeiten. Schlechte Rechtschreibung ist kein Weltuntergang. Da helfen heute Korrekturprogramme. Wenn man aber nicht Lesen kann, beeinträchtigt das Lebens- und Berufschancen massiv.“ Im Oktober 2018 beginnt an der Universität Graz wieder der berufsbegleitende Masterlehrgang (Therapie von Lernschwächen/Lernstörungen), der Lernschwächen ganzheitlich betrachtet und eine Brücke zwischen Forschung und Praxis schlägt.


Zur Person Karin Landerl ist Professorin für Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Von 2007 bis 2010 war sie Projektleiterin im Centre for Integrative Neuroscience an der Universität Tübingen, einem DFG-Exzellenzcluster. Sie studierte Psychologie und Sprachwissenschaften an der Universität Salzburg und hatte Forschungsaufenthalte als APART-Stipendiatin am Institute of Cognitive Neuroscience (University College of London) und am Institut PI Research der Vrije Universiteit Amsterdam.


Mehr Informationen Berufsverband Akademischer Legasthenie-Dyskalkulie-TherapeutInnen Master-Lehrgang Therapie von Lernschwächen/Lernstörungen


Publikationen

Gangl, M., Moll, K., Banfia, C., Huber, S., Schulte-Körne, G., Landerl, K.: Reading strategies of good and poor readers of German with different spelling abilities. Journal of Experimental Child Psychology, 2018
Banfi, C., Kemeny, F., Gangl, M. Schulte-Körne, G., Moll, K., & Landerl, K.: Visual attention span performance in German-speaking children with differential reading and spelling profiles: no evidence of group differences. PLoS One, 13(6): e0198903, 2018
Gangl, M.; Moll, K., Jones, M. W., Banfi, C., Schulte-Körne, G. & Landerl, K.: Lexical reading in dysfluent readers of German. Scientific Studies of Reading, 22, 24-40, 2018
Kemeny, F., Banfi, C., Gangl, M., Perchtold, C.M., Papousek, I., & Landerl, K.: Print-, sublexical and lexical processing in children with reading and/or spelling deficits: an ERP study. International Journal of Psychophysiology, 2018