Das Grundlagenforschungsprojekt "Transdifferenz in der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn" umfasst eine Datenbank von mehr als 200 deutschsprachigen Autorinnen. © transdifferenz/Screenshot

Dass Frauen sich Bildung aneignen, selbst schreiben und ihre Werke gelesen werden, war zur Zeit der Habsburgermonarchie nicht die Regel. Umso erstaunlicher ist es, dass Alexandra Millner von der UniversitĂ€t Wien unterstĂŒtzt vom Wissenschaftsfonds FWF nicht wenige, heute unbekannte Autorinnen gefunden hat, die im damaligen Österreich-Ungarn Ă€ußerst produktiv waren: Frauen mit Migrationserfahrung, die hĂ€ufig gegen den gesellschaftlichen Mainstream anschrieben und zum Teil ein großes Lese-Publikum hatten. Im Rahmen vorangehender Forschung war der Germanistin aufgefallen, dass Frauen, die ihren Lebensmittelpunkt Ă€nderten, oft einen anderen Blick auf die Gesellschaft hatten. Ausgehend von bekannten Schriftstellerinnen wie Bertha von Suttner, Ada Christen oder Marie von Ebner-Eschenbach spĂŒrte die Elise-Richter-Stipendiatin am Institut fĂŒr Germanistik rund 200 Autorinnen im Zeitraum von 1867 bis 1918 auf: frĂŒhe, zum Teil subversive Frauenstimmen, die sich unter den erschwerten Bedingungen der Zensur Gehör verschafften.

Neue Datenbank erweitert tradierten Kanon

Gemeinsam mit Katalin Teller von der Eötvös-LorĂĄnd-UniversitĂ€t Budapest deckte Millner ausgehend von Standard-Werken zur Literaturgeschichte, digitalisierten historischen Literaturzeitschriften, Datenbanken (z.B. Ariadne https://www.onb.ac.at/forschung/ariadne-frauendokumentation) sowie Bibliotheksverzeichnissen zu Unrecht vernachlĂ€ssigte Namen auf. „Die Digitalisierung der Zeitschriften ist fĂŒr uns ein Segen, zumal viele Frauen den Schritt von der unselbststĂ€ndigen Publikation zu eigenen BĂŒchern nie vollzogen haben“, betont Millner im GesprĂ€ch mit scilog. Aus der FĂŒlle des Materials wurden fĂŒnf Lebensgeschichten ausgesucht und exemplarisch vertieft. In der öffentlich zugĂ€nglichen Datenbank www.univie.ac.at/transdifferenz, die laufend ergĂ€nzt werden soll, sind nun Informationen zu Name und/oder Pseudonym, Lebensdaten, Migrationsbewegung, selbststĂ€ndigen und unselbststĂ€ndigen Publikationen sowie Links zu Digitalisaten fĂŒr jede der gefundenen Autorinnen abrufbar. Der tradierte Literaturkanon hat durch diese Grundlagenforschung eine wertvolle ErgĂ€nzung erfahren. Die Migrationserfahrungen der Frauen waren ganz unterschiedlich: Vom Rand der Monarchie in die Residenzhauptstadt Wien, in die Gegenrichtung, ins Exil, mit anderer Erstsprache als Deutsch, freiwillig oder erzwungen, wohlhabend oder mittellos. Die Autorinnen stammten hĂ€ufig aus dem Adel oder gehobenen BĂŒrgertum; sie waren Lehrerinnen, Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Arbeiterinnen oder Journalistinnen. Viele schrieben, weil sie aufgrund der Großen Depression plötzlich einen Beruf ergreifen und Geld verdienen mussten. Deutsch als Amtssprache einte sie mit ihrem Lesepublikum, denn in der Habsburgermonarchie war eine strikte Form dessen, was man heute „Leitkultur“ nennt, in Kraft. Vor dem Hintergrund von Industrialisierung und Alphabetisierung wurde im Vergleich zu heute ein Vielfaches an Tageszeitungen und Zeitschriften publiziert und gelesen. Schrift wurde zunehmend ein Medium zur Verbreitung politischer Ideen. Im Rahmen ihres Elise-Richter-Stipendiums des FWF wollte Alexandra Millner den Literaturkanon erweitern: „Mir ist aufgefallen, dass viele Frauen, die aus der Peripherie ins Zentrum migriert waren, anders schrieben als jene aus dem Zentrum der Monarchie. Das geht sichtlich auf die IntensitĂ€t der Migrationserfahrung zurĂŒck, die nach Formulierung und Ausdruck verlangt, und fĂŒhrt zu einem vorurteilsfreieren Blick.“

Transdifferenz – Hinauswachsen ĂŒber Vorurteile

Um das Subversionspotenzial der Frauenstimmen auszuloten, begab sich Alexandra Millner auf die Suche nach bewusst in die Literatur eingeflochtenen „transdifferenten Momenten“. Transdifferenz beschreibt das Abweichen oder Hinauswachsen einer Person ĂŒber Eigenschaften, die ihr aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (mit Kategorien wie Geschlecht, Religion, Sprache, Schicht, Profession oder Generation) zugewiesen werden. Die Germanistin hat eine Methode entwickelt, „um vor dem Hintergrund viel gelesener Literatur in Österreich-Ungarn und den darin vorkommenden Figuren Abweichungen festzustellen“, berichtet Millner. „Auffallend sind fĂŒr mich Schriftstellerinnen, die populĂ€re stereotype Figuren wie ‘das böhmische DienstmĂ€del‘‚ oder ‚die junge Zigeunerin‘ gegen den Strich schreiben.“ Als Beispiel darf etwa eine ErzĂ€hlung von der zu ihrer Zeit durchaus bekannten Naturalistin und SalonniĂšre Eugenie Marie delle Grazie gelten, in der eine junge Romni nicht mit den stereotypen Eigenschaften wie schön, wild, verfĂŒhrerisch oder verschlagen gezeigt wird, sondern unschuldig und moralisch integer. Zudem verwehrt sich die junge ErzĂ€hlerin in einem GesprĂ€ch mit ihrer alten Amme gegen deren negativen Vorurteile gegenĂŒber den Roma. Es zeigt sich auch, dass im Gefolge großer Emanzipationsbewegungen wie der Französischen Revolution oder der Abschaffung der Sklaverei in den USA und im Zuge der ErmĂ€chtigung der Frauen sowie der Arbeiterklasse subtile literarische Stimmen immer lauter wurden. Nebenbei beweist die Datenbank, dass Migration zur Menschheitsgeschichte gehört. Die Erfahrung mit Ortswechseln schĂ€rft den Blick fĂŒr Stereotype und Vorurteile. Und der Blick zurĂŒck auf die historische Literatur wirft wiederum ein neues Licht auf die gegenwĂ€rtige Literatur ĂŒber Migrationserfahrungen.

 Zur Person

Alexandra Millner forscht am Fachbereich Neuere deutsche Literatur des Instituts fĂŒr Germanistik der UniversitĂ€t Wien. Sie studierte Deutsche Philologie, Anglistik und Amerikanistik sowie Kunstgeschichte und promovierte in Deutscher Philologie. Ihre Spezialgebiete sind Literatur und Kultur ab dem 19. Jahrhundert, insbesondere in Österreich-Ungarn sowie Gegenwartsliteratur. Zurzeit ist sie mit der Edition der Dramen und Hörspiele des österreichischen Schriftstellers Albert Drach (1902–1995) im Rahmen eines weiteren FWF-Projekts befasst.

Projektdatenbank: www.univie.ac.at/transdifferenz

Publikationen

Alexandra Millner, Katalin Teller: Auf Reisespuren in Bertha und Arthur Gundaccar von Suttners Literatur. In: Johann Georg Lughofer/Milan TvrdĂ­k (Hg.): Suttner im KonText. InterdisziplinĂ€re BeitrĂ€ge zu Werk und Leben der FriedensnobelpreistrĂ€gerin. Heidelberg: Winter-Verlag 2017, S. 45–73

Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.): Transdifferenz und TranskulturalitĂ€t. Migration und AlteritĂ€t in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns. Bielefeld: transcript Verlag