Porträt von Tan Eng Chye, Präsident der National University of Singapore.
Forschung nicht isoliert betrachten, sondern das ganze "Ökosystem", empfiehlt der Mathematiker und Präsident der National University of Singapore, Tan Eng Chye. Er ist Gast bei den Alpbacher Technologiegesprächen 2020. © NUS

FWF: Welche Faktoren haben Auswirkungen auf die Prioritätensetzung der akademischen Forschung in der NUS?

Tan Eng Chye: Die Prioritäten sind vom Kontext der Forschungsfinanzierung im Land abhängig. 90 Prozent der Geldmittel der NUS kommen von der Regierung, die festgelegt hat, dass ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Forschung fließen soll. Gleichzeitig hofft man, dass weitere Mittel in der Höhe von zwei Prozent des BIP von der Industrie kommen. Dabei gehen 15 bis 20 Prozent der gesamten Forschungsausgaben in die Grundlagenforschung. Singapurs Regierung entscheidet alle fünf Jahre über die Finanzierungsstrategie der Wissenschaften. Manche Forschungsbereiche werden dabei stärker unterstützt, weil sie für die Entwicklung des Landes wichtig erscheinen. In der gegenwärtigen Fünfjahresperiode wurden vier Bereiche hervorgehoben.

FWF: Welche Forschungsbereiche werden derzeit unterstützt?

Tan Eng Chye: Einer davon ist Industrie 4.0 und eine Erneuerung des Produktionssektors. Ein anderer zielt auf Nachhaltigkeit ab. Denn nachdem Singapur eine Insel ist, werden die Menschen hier im besonderen Maße vom Klimawandel betroffen sein. Ein weiterer Aspekt ist die Positionierung des Landes als „Smart Nation“, um mehr digitale Technologien zu adaptieren und die damit einhergehenden Fähigkeiten aufzubauen. Der vierte Bereich ist die Gesundheitsversorgung – biomedizinische Forschung und ihre Umsetzungen. Dann gibt es aber noch einen fünften Bereich, den man „White Space“ genannt hat: ein Budget für den Fall, dass Entwicklungen eintreten, auf die die Forschung sofort reagieren muss. Die Regierungsmittel kommen großteils über die National Research Foundation (NRF). Unsere Professorinnen und Professoren müssen ihre Bewerbungen um Forschungsgrants also an den genannten Bereichen ausrichten.

FWF: An vielen Universitäten gerät das Ideal einer freien und ergebnisoffenen Grundlagenforschung zunehmend unter Druck, einer risikoarmen, anwenderorientierten und wirtschaftsnahen Forschung Platz zu machen. Muss die Grundlagenforschung stärker vor diesen Interessen geschützt werden?

„Exzellenz und Relevanz schließen einander nicht aus. Das Wichtigste ist Qualität.“ Tan Eng Chy

Tan Eng Chye: Es ist ein ständiger Kampf. Ich selbst bin als Mathematiker Grundlagenforscher. Es kann aber nicht alles Grundlagenforschung sein, genauso wie nicht alles anwendungsorientiert sein kann. Es muss eine sinnvolle Aufteilung geben. Mit dieser müssen auch die Geldgeber einverstanden sein, gerade wenn die Mittel aus der öffentlichen Hand kommen. Regierungen stehen auf dem Prüfstand der Öffentlichkeit und viele Menschen würden das Geld lieber in Projekte mit unmittelbarem oder mittelfristigem Nutzen investieren. Um die Fähigkeiten eines Landes aber langfristig zu verbessern, muss man die Grundlagenforschung fördern. Exzellenz und Relevanz schließen einander nicht aus. Das Wichtigste ist Qualität.

FWF: Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und Differenzen der NUS zu den akademischen Kulturen in Europa und den USA?

Tan Eng Chye: Wir haben an der NUS erst vor 20 Jahren begonnen, ernsthaft in Forschung zu investieren – in dieser Hinsicht sind wir eine sehr junge Universität. In den USA entschied man nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Regierung eine Schlüsselrolle in der Förderung der Wissenschaften spielen sollte – siehe "Science: The Endless Frontier" von Vannevar Bush. Wissenschaft genoss damals hohe Akzeptanz. Immerhin hatte sie geholfen, den Krieg zu gewinnen. Das erlaubte der US-Forschungsinfrastruktur über 70 Jahre hinweg zu wachsen. Europa und Großbritannien folgten bald.

„Wir betrachten Forschung nicht isoliert.“ Tan Eng Chye

Großbritannien etwa hat ein Bewertungssystem, das Mittel anhand des Impacts der Forschung verteilen lässt. Wir lernen von den USA und Europa, wir verstehen aber auch den Kontext Singapurs und schneidern die Konzepte auf ihn zu. Wir betrachten dabei die Forschung nicht isoliert, sondern immer das gesamte Ökosystem von Forschung-Innovation-Anwendung, sodass im ganzen Spektrum von der Grundlagenforschung bis in die Unternehmen hinein genug Expertise vorhanden ist.

FWF: Internationale Netzwerke sind wichtig für die Rekrutierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, aber auch für die Zusammenarbeit in Projekten. Wie bauen Sie diese Netzwerke auf?

Tan Eng Chye: Das Netzwerk ist wichtig. Gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu haben, ist aber noch wichtiger, denn sie bringen ihre eigenen Netzwerke mit. Das hilft bei der Rekrutierung. Gute Forschende werden weitere gute Forschende anziehen.

FWF: Welche Chancen bietet die NUS jungen Forschenden, die sich noch keinen Namen im Wissenschaftsbetrieb machen konnten?

Tan Eng Chye: Wir haben beispielsweise eine spezielle Professur für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ein „Presidential Young Professorship“, das mit substanziellen Mitteln ausgestattet ist und den Inhabern eine sehr privilegierte Position unter den Assistenzprofessoren verleiht. Außerdem haben wir die National Research Foundation Fellowships für junge Forschende, ebenfalls ein sehr wirksames Instrument. Eine wichtige Frage ist, wie man auf Talente mit großem Potenzial überhaupt aufmerksam wird. Zum einen sind es Professorinnen und Professoren, die ihre besten Studierenden empfehlen. Zum anderen achten wir darauf, wer Angebote von anderen Spitzenuniversitäten, beispielsweise in den USA, bekommt, um ihnen hier ebenfalls eine Stelle anzubieten. Man muss sich aggressiv diesem Wettbewerb um junge Talente stellen, denn sie sind die Zukunft.

FWF: Wie schaffen Sie eine Umgebung, in der die Forschenden ihr volles Potenzial entfalten können?

„Den Forschenden muss die Freiheit gegeben werden, das zu tun, worin sie gut sind.“ Tan Eng Chy

Tan Eng Chye: Es gibt einige wichtige Zutaten: Gute Leute arbeiten gerne mit anderen guten Leuten zusammen – also muss man genug von ihnen haben. Zudem braucht man State-of-the-Art-Infrastruktur. Drittens muss man ermöglichen, dass die Forschenden auf einfache Weise in Verbindung treten können; dass sie reisen können, dass sie kooperieren können. Als Viertes benötigt man ein offenes Umfeld. Man darf Talente nicht einschränken. Der Wissenschaftlerin oder dem Wissenschaftler muss die Freiheit gegeben werden, das zu tun, worin sie oder er gut ist. Und schließlich braucht man eine sichere Umgebung, nicht nur für die Forschenden selbst, sondern auch für ihre Familien. Sie sollen sich nicht sorgen müssen, sondern sich ganz auf die Arbeit konzentrieren können.

FWF: Die Covid-19-Pandemie hat auch das akademische Leben verändert. Wie ging die NUS damit um?

Tan Eng Chye: Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem Universitäten zeigen können, welchen Wert sie für ihr Land haben. Wir haben etwa ein Zentrum für öffentliche Gesundheit, deren Expertinnen und Experten die Regierung mit epidemiologischen Modellierungen unterstützen und in Bezug auf Covid-19-Maßnahmen beraten. Wir waren weiters eine der ersten Universitäten weltweit, die ein serologisches Testverfahren auf Covid-Antikörper bot, insbesondere um Contact Tracing zu erleichtern. Wir können heute bei einer Bevölkerung von 5,5 Millionen Menschen 14.000 Tests pro Tag durchführen – eine der weltweit besten Quoten. Mehrere Projekte für die Schnelldiagnostik laufen gerade. Covid-19-Tests sollen künftig innerhalb von 30 Minuten durchführbar sein, die hoffentlich weniger als ein Singapur-Dollar kosten werden, was das Contact Tracing stark vereinfacht. Einer der 24 Impfstoffe, die derzeit weltweit in klinischen Studien an Menschen getestet werden, kommt von uns. Covid-19 wird die Welt verändern. Die Art, wie wir leben, wie die Wirtschaft funktioniert, wird nach der Pandemie eine andere sein. Deshalb haben wir auch ein Programm („Reimagine Research“) ins Leben gerufen, in dem wir uns Gedanken machen, welche Art von Forschung für diese neue Ära notwendig sein wird.

Tan Eng Chye ist seit 2018 Präsident der National University of Singapore (NUS). Als Professor mit einem PhD-Abschluss in Mathematik der US-Universität Yale initiierte er eine Reihe von Forschungs- und Ausbildungsprogrammen der NUS und war in verschiedenen Rollen am Aufbau des derzeitigen akademischen Systems der Universität beteiligt. Die 1905 gegründete NUS ist die älteste Hochschule Singapurs. In Rankings wird sie laufend unter die Top-3-Universiäten im Asia-Pacific-Raum und zu den Top-100 weltweit gereiht.

Return on Investment – Excellence & Relevance in Science

Europäisches Forum Alpbach – Breakout Session Freitag, 28. August 2020, 9-11 Uhr, online Tan Eng Chye ist einer von fünf internationalen Expertinnen und Experten, die am 28. August bei der Breakout Session des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung BMBWF und des Wissenschaftsfonds FWF virtuell bei den Alpbacher Technologiegesprächen zu Gast sein werden, um das vermeintliche Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Exzellenz und gesellschaftlicher Relevanz zu erörtern.