Wiener PolitikwissenschaftlerInnen untersuchen die Rolle von Frontex und anderen EU-Agenturen im Grenzmanagement der Europäischen Union. © Humberto Chavez/Unsplash

Sie ist und bleibt ein Dauerthema: die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik. So zeigen etwa die jüngsten Unruhen an der griechisch-türkischen Grenze erneut die Komplexität der europäischen Grenzschutzpolitik auf. Rund um die Debatten zur Sicherung der Grenzen ist die EU-Agentur Frontex in den Fokus geraten, die seit 2005 damit betraut ist, den Außengrenzschutz der EU zu koordinieren. In den vergangenen 15 Jahren ist die Agentur kontinuierlich gewachsen, insbesondere im Zuge des Migrationshöhepunktes 2015, wurden ihre Kompetenzen und Ressourcen ausgebaut. Von Beginn an stand Frontex allerdings auch unter Kritik, Menschen- und Grundrechte zu verletzen. „Noch 2005 kommen Grundrechte in den Leitlinien der Agentur gar nicht vor“, bestätigt Peter Slominski.

Grundrechtliche Bedenken und Unklarheiten

Der Politikwissenschaftler untersucht gemeinsam mit der Politologin Chiara Loschi in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten und an der Universität Wien angesiedelten Projekt, die Rolle von Frontex und weiteren EU-Agenturen im Grenzmanagement der Europäischen Union. Slominski interessiert sich vor allem für die Frage, ob und wie Agenturen zusammenarbeiten und wie es dabei um die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten bestellt ist. „Da Frontex keine Hoheitskompetenz hat, sondern nur die Mitgliedsstaaten unterstützt, wenn diese Bedarf anmelden, habe man seitens der Agentur zunächst auch damit argumentiert, dass die Grundrechte durch die Nationalstaaten gesichert werden“, erläutert Slominski. Doch die Kritik blieb bestehen, auch weil der Handlungsspielraum von Frontex als europäische Einrichtung von vielen Unklarheiten begleitet ist.

Wachsende Kooperation und Kompetenzen

Nicht zuletzt aufgrund der Sensibilität des Themas hat Frontex inzwischen einzelne Schritte gesetzt und sich etwa per Verhaltenskodex den Grundrechten verpflichtet. Eine Reform der Agentur 2010/11 brachte weitere Veränderungen. Eigene Einrichtungen, wie das Consultative Forum, wurden geschaffen und Grundrechtsexperten ernannt, die intern die Aktivitäten der Agentur auf Grundrecht-Konformität prüfen. „Seitdem sind auch die anderen Agenturen präsent“, sagt Peter Slominski. Frontex arbeitet unter anderem mit dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen EASO und der Europäischen Grundrechteagentur FRA mit Sitz in Wien zusammen. Wie die Zusammenarbeit von Frontex mit diesen beiden Agenturen funktioniert, ist im Fokus des Forschers. „Die Agenturen treffen sich regelmäßig und das politische Bekenntnis zusammenzuarbeiten, hat eine institutionalisierte Grundlage bekommen“, erklärt Slominski. An Bedeutung hat die Zusammenarbeit der drei Agenturen auch in der Praxis gewonnen, als die EU 2015 mit der Einrichtung von Hotspots in den von der Migration am meisten betroffenen Ländern wie Griechenland oder Italien reagierte. Die Maßnahme sollte helfen, ankommende Flüchtlinge schnell zu identifizieren und zu registrieren sowie die geplanten Umverteilungen auf die Mitgliedsstaaten umzusetzen. Frontex und EASO haben in den Hotspots die entsprechende Infrastruktur mitaufgebaut, stellen Geräte zur Verfügung, unterstützen bei der Abwicklung von Asylverfahren und FRA führt Schulungen durch. „Hier sind die Agenturen sehr präsent, kooperieren miteinander und haben dadurch einen Kompetenzschub bekommen“, schildert Peter Slominski, der zahlreiche Interviews mit Verantwortlichen geführt hat. Doch offen geblieben ist bis heute unter anderem die Antwort auf die Frage der Umverteilung, zu der es nach wie vor keinen politischen Konsens gibt. Mit dem Ergebnis, dass viele Flüchtlinge in den Lagern bleiben oder in andere Länder „durchgewunken“ werden.

Der kleinste gemeinsame Nenner

„Die Agenturen funktionieren nur dann, wenn die Mitgliedsstaaten kooperieren“, bringt es der Wissenschaftler auf den Punkt. EU-Agenturen wie Frontex sind eine Kompromisslösung der europäischen Institutionen. Sie operieren zwar im Alltag unabhängig, haben aber keine Entscheidungsbefugnisse. Das heißt, die Agenturen üben de facto oft mehr an Kompetenzen aus als ihnen formal zusteht. Das erzeugt eine Dynamik, die es einerseits ermöglicht, rasch und flexibel zu agieren, andererseits passiert vieles in einem Graubereich. Was das über die EU-Grenzpolitik sagt, unter anderem in Hinblick darauf, dass Frontex bis 2027 auf 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwachsen soll, ist auch dem Forscher nicht ganz klar. „Ich vermute, dass Pools von Grenzschützern, die schon jetzt operieren, geschaffen werden sollen.“, erklärt Slominski. Einigkeit gäbe es unter den Mitgliedstaaten jedenfalls nur im Bekenntnis zu sicheren Grenzen, was ein instabiles Gleichgewicht innerhalb der Europäischen Union erzeuge. Und die Frage bleibt offen, inwieweit die Agenturen, die nicht staatsunabhängig operieren können, grundrechtskonform agieren oder ob es Rechtsschutzlücken gibt. Auch wenn der Stellenwert der Agenturen wachse, werde man um grundsätzlichere Maßnahmen wie einer Reform des Dublin-Regimes und einer Stärkung der innereuropäischen Solidarität langfristig nicht herum kommen, ist der Politikwissenschaftler überzeugt.


Zu den Personen Der Politikwissenschaftler und Soziologe Peter Slominski forscht am Zentrum für europäische Integrationsforschung EIF der Universität Wien. Er beschäftigt sich mit Fragen zur europäischen Integration mit den Schwerpunkten auf EU-Migrations- und Klimapolitik. Das FWF-geförderte Projekt „Europäische Grenzschutzpolitik“ läuft noch bis Herbst 2020. Die Politologin Chiara Loschi forscht am Zentrum für europäische Integrationsforschung EIF der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf EU-Grenzschutzpolitik und Grundrechte sowie der Politik des Nahen Ostens und Nordafrika (MENA Region).


Publikationen

Loschi, C.: The Regulation (EU) 2019/1896 on the European Border and Coast Guard Agency (FRONTEX): preliminary insights on inter-agency cooperation and implications for fundamental rights, ADiM BLOG, 2020
Loschi, C.; Slominski, P.: Policy consolidation through interagency relations in the wake of the 2015 migration crisis, in: J. Pollak, P. Slominski (Hg.): EU Agencification in Times of Crisis: Impact and future Challenges, Palgrave Macmillan, 2020 i.E.
Slominski, P.; Trauner, F.: How do Member States Return Unwanted Migrants? The Strategic (non-)Use of Europe during the Migration Crisis, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 56(1), 101-118, 2018