Im Projektraum des künstlerischen Forschungsprojekts INTRA-SPACE treten reale und virtuelle Personen miteinander in Kontakt. © Günter Richard Wett

Einen Vorgeschmack auf die Interaktion mit einem virtuellen Gegenüber erlebten Interessierte bei der 13. Architektur-Biennale 2012 in Venedig. Im Auftrag von Kommissär Arno Ritter montierten Wolfgang Tschapeller und sein Team im lang gestreckten Österreich-Pavillon einen Spiegel. Auf die gegenüberliegende Seite wurden animierte 3D-Figuren projiziert, die von realen Personen abgenommen wurden. Im Spiegel konnten nun reale und virtuelle Gäste einander begegnen. Der Wissenschaftsfonds FWF hat im Rahmen des künstlerisch-wissenschaftlichen PEEK-Programms die interdisziplinäre Gestaltung dieses vielfältigen Erfahrungsraumes INTRA-SPACE gefördert, einer Art experimentellen Zone, wo über Beziehungen zwischen virtuellen Figuren und Menschen spekuliert und diese erfahrbar gemacht wurden.

Räumliche Erfahrung im Moment

Projektleiter Wolfgang Tschapeller vom Institut für Kunst und Architektur der Akademie der bildenden Künste Wien versammelte ein 18-köpfiges interdisziplinäres Team aus den Bereichen Motion Capture (Bewegungserfassung), 3D-Visualisierung, Computergrafik und Animation, Architektur, Architekturtheorie, Artificial Intelligence, Neurowissenschaften sowie Tanz. Ein Ausgangspunkt von INTRA-SPACE war der Begriff „Intra-aktion“, geprägt von der theoretischen Physikerin und feministischen Philosophin Karen Barad. Anders als Interaktion beschreibt sie Vorgänge, Identitäten und Objekte als nicht vorab definiert. Sie entstehen erst im Moment. Diese Verschränkung bezeichnet Barad als Intra-aktion: „Inspiriert von Karen Barads Konzept haben wir versucht, dieses in ein räumliches Bezugssystem zu übersetzen, in dem sich virtuelle Körper und physische Körper verschränken können“, beschreibt Christina Jauernik, Architektin und künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt. Ausgehend von der Frage nach dem Wesen der Messungen im Moment, arbeiteten die Teammitglieder gemeinsam zweieinhalb Jahre vor Ort und aus der Distanz am selben Raum: einem experimentellen Modell für Intra-aktionen.

Begegnung ohne technische Hilfsmittel

Zentral war die Kooperation mit dem Institut für Visual Computing und Human-Centered Technology der Technischen Universität Wien (Michael Wimmer, Christian Freude) und der Forschungsgruppe um Nils Hasler vom Max-Planck-Institut in Saarbrücken. Dort wurde ein experimentelles System zur Bewegungserfassung (Motion Capture) entwickelt, das ohne Anzüge mit Markierungspunkten auskommt, wie sie aktuell für Computeranimationen genutzt werden. Gearbeitet wurde mit Industriekameras und Algorithmen, die aus der Differenz zwischen dem statischen Raum und den aktiven Menschen Bewegungsdaten errechnen. Es wurden neun verschiedene „diaphane“ (d.h. durchscheinende, vergängliche) Figuren geschaffen, gesteuert in Echtzeit über Bewegung und Verhalten des realen Gegenübers: eine alte Dame, das junge Mädchen Carla, Bob, ein Mann Mitte dreißig, ein alter Mann etc. Diese virtuellen Figuren beherrschen auch ein paar übermenschliche Tricks: Sie können ineinander übergehen, mit den Füßen an der Decke stehen, Körperteile in Objekte verwandeln, zoomen, morphen, verschwinden und an anderer Stelle wieder auftauchen.

Tänzerinnen Esther Balfe und Christina Jauernik mit der Figur Bob bei einer Probe im Projektraum. © INTRA-SPACE 2017

Üben einzeln und im Kollektiv

In zwei aufeinander folgenden Versuchsreihen wurden anschließend Szenarien des Aufeinandertreffens von einer oder mehreren realen und virtuellen Personen entwickelt. Da sich die Figuren erst durch die Begegnung mit den realen Personen vollständig definieren, ist jede Intra-aktion im INTRA-SPACE anders, im Barad’schen Sinne. Zuerst kam je ein Gast mit einem virtuellen Gegenüber – als Doppelgänger – zusammen. In der zweiten Versuchsreihe trafen bis zu fünf Gäste auf virtuelle Figuren, die mit den Gästen, aber auch untereinander interagierten. Die Figuren lösten sich mittels künstlicher Intelligenz vom spiegelbildlichen Verhalten. Die Sinneserfahrungen wurden zusätzlich verfremdet, indem die Augen der Menschen mittels Computer zum Beispiel auf das Knie versetzt wurden, was die Perspektive auf das virtuelle Gegenüber verändert. „Wir haben uns bewusst dazu entschieden, nah am menschlichen Körper dranzubleiben und über die Unmittelbarkeit eine Beziehung aufzubauen – wobei wir versucht haben, das räumliche Bezugssystem möglichst niederschwellig und beiläufig zu gestalten“, erklärt Christina Jauernik. INTRA-SPACE wurde als Prototyp konzipiert, könnte im öffentlichen Raum genauso wie in einer Wohnung, einer Galerie oder wie derzeit am Institut für Kunst und Architektur als Instrument für Studierende installiert werden. Auch Schulklassen und Flüchtlingsgruppen besuchten den Raum und machten ihre Erfahrungen. Ergebnis des Projekts ist eine funktionierende Infrastruktur, mit der auf körperlicher und emotionaler Ebene die Begegnung geübt werden kann: „In der engen, täglichen Zusammenarbeit mit Carla hat sich etwa mein Kleiderschrank neu sortiert“, erzählt Jauernik. „Ich habe bemerkt, dass unsere Zusammenarbeit in manchen Outfits aufgrund von Kontrast und Farbigkeit besser funktioniert. Solche anekdotischen Erfahrungen geben erste Hinweise, wie sich reale und virtuelle Personen in unserem Projekt gegenseitig durchdringen.“ In der letzten Projektphase wurden in Einzel-Sessions Rückmeldungen für mögliche Anwendungsfelder gesammelt. So könnte das System in der Wahrnehmungspsychologie, der Rehabilitation in physiotherapeutischen Behandlungen, in der Verhaltensforschung, dem Interaktionsdesign oder den Neurowissenschaften angewandt werden.


Zur Person Christina Jauernik studierte Kunst und Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien, an der Universität der Künste Berlin sowie zeitgenössischen Tanz an der Hogeschool voor de Kunsten Amsterdam und Choreografie als Ortsbezogene Kunst am Dartington College of Arts, Großbritannien. Sie war künstlerische Mitarbeiterin und Dissertantin im Forschungsprojekt INTRA-SPACE unter der Leitung von Wolfgang Tschapeller.


Projektwebsite: https://intraspace.akbild.ac.at/