Eine LĂŒcke in der AtmosphĂ€renchemie berechnen
Lukas Pichelstorfer, Physiker und Erwin-Schrödinger-Stipendiat des Wissenschaftsfonds FWF, will mit seinem Computermodell eine WissenslĂŒcke auf dem Gebiet der AtmosphĂ€renchemie schlieĂen: zwischen dem bekannten Ursprung flĂŒchtiger organischer Substanzen und ihrem Endprodukt Kohlendioxid. Aber auch zwischen theoretischer und experimenteller AtmosphĂ€renchemie sowie bekannten Reaktionspfaden und gemessenen MolekĂŒlen. Der Abgleich der theorie-basierten Simulationsergebnisse mit experimentell erhobenen Daten soll das Modell verifizieren. In der Folge könnten verschiedene Auswirkungen der flĂŒchtigen organischen Kohlenwasserstoffe auf Klima und LuftqualitĂ€t ermittelt werden.
Von VOC zu HOM
Jeder kennt flĂŒchtige organische Verbindungen (VOC), zum Beispiel in Form von aromatischen Kohlenwasserstoffen. Wir riechen sie an der Tankstelle (Benzol) oder als Lösungsmittel in Lacken und Farben (Toluol), aber auch im Nadelwald (Pinene). Die AtmosphĂ€renchemie unterscheidet flĂŒchtige Kohlenwasserstoffe mit anthropogenem (AVOC) und solche mit biogenem Ursprung (BVOC). Egal aus welcher Quelle: Eine zu hohe Konzentration von flĂŒchtigen organischen Verbindungen hat meist eine gesundheitlich nachtrĂ€gliche Wirkung. Die Folgen reichen von Augen- ĂŒber Atemwegsirritationen bis zu Krebserkrankungen. Allen gemeinsam ist, dass VOC in der AtmosphĂ€re weiter reagieren. Am Ende der atmosphĂ€rischen Reaktionsketten âverbrennenâ aromatische Kohlenwasserstoffe zum Treibhausgas CO2. Dazwischen ĂŒbernehmen die vom Menschen produzierten Gase (AVOC) weitere klimarelevante Funktionen. Die ursprĂŒnglich flĂŒchtigen Substanzen reichern sich nach einer Erstreaktion immer weiter mit Sauerstoff an und werden in der Fachsprache HOM (highly oxygenated molecules) genannt. Diese HOM unterscheiden sich in ihren Eigenschaften von den flĂŒchtigen AusgangsmolekĂŒlen fundamental. Sie können zur Bildung von Partikeln beitragen, an denen wiederum Wolken kondensieren. Oder die LuftqualitĂ€t beeinflussen. Wolken haben einen groĂen, aber teilweise noch unerforschten Einfluss auf das Klima: âEin besseres VerstĂ€ndnis fĂŒr die Rolle von VOC bei ihrer Entstehung ist daher auch fĂŒr die Klimaforschung relevant. Wie sich die LuftqualitĂ€t durch emittierte VOC verĂ€ndert, ist wiederum fĂŒr BallungsrĂ€ume wichtigâ, erlĂ€utert Pichelstorfer.
Masse bekannt â Struktur fraglich
Solche HOM-MolekĂŒle können seit einigen Jahren mit hoch entwickelten Massenspektrometern eingefangen, jedoch noch nicht genau beschrieben werden: âMan kann sie messen, weiĂ aber weder genau, wie sie entstehen, noch wie ihre Struktur aussieht, und diese legt die Eigenschaften des MolekĂŒls festâ, erklĂ€rt der Forscher und weiter: âWir entwickeln ein Modell an der Schnittstelle zwischen theoretischer und experimenteller Chemie, das rechnerisch die wahrscheinlichsten Reaktionspfade samt Abzweigungen verfolgt und die nachgewiesenen MolekĂŒle erklĂ€ren soll. Im nĂ€chsten Schritt soll das Modell die experimentell ermittelten Massenpeaks aus dem Spektroskop reproduzieren und die Eigenschaften der auf diesem Weg gebildeten möglichen MolekĂŒle ermittelnâ, erklĂ€rt Lukas Pichelstorfer, der derzeit am Institute for Atmospheric and Earth System Research der UniversitĂ€t Helsinki forscht. Die Herausforderung liegt darin, theoretische Grundregeln fĂŒr Reaktionen so einzuspeisen, dass der Code je nach Input und Bedingungen neu und automatisiert erzeugt werden kann. Begonnen hat der Forscher mit Benzol, als Prototyp fĂŒr einen aromatischen Kohlenwasserstoff, und rund 1700 Differentialgleichungen, die voneinander abhĂ€ngen und das Reaktionssystem beschreiben. Derzeit werden die simulierten MolekĂŒle aus dem Modell mit Messungen unter kontrollierten, aber variierenden Bedingungen verglichen. âEin Modell fĂŒr die Bildung von HOM durch Reaktion von AVOC in der AtmosphĂ€re gibt es noch nicht. Das ist ein heiĂes Forschungsthema. Die Testfrage fĂŒr das Modell lautet immer: HĂ€lt die simulierte Theorie der gemessenen Praxis und der angenĂ€herten RealitĂ€t des Geschehens in der AtmosphĂ€re standâ, erlĂ€utert Pichelstorfer. DafĂŒr kooperiert der Schrödinger- Stipendiat des FWF mit Kollegen und Kolleginnen an verschiedenen UniversitĂ€ten. Die Implementierung des Codes aus seinem Programm in bestehende Aerosoldynamik-Modelle und chemische Transportmodelle wird Aufschluss ĂŒber den Beitrag von HOM hinsichtlich der Neubildung und des Wachstums von Partikeln in Messkammern und in der Natur liefern.
AtmosphÀrenchemie in Echtzeit
Parameter wie Temperatur, Luftdruck, Sonnenlicht, die Konzentration verschiedener Gase und vieles mehr sind Stellschrauben der AtmosphĂ€renchemie. Das Team plant bereits Reality Checks in Istanbul (TĂŒrkei) und Nanjing (China). Dort sollen âAtmosphĂ€renstĂŒckeâ ĂŒber der Stadt beschrieben und verfolgt werden. Was darin chemisch und physikalisch ablĂ€uft, wie die LuftqualitĂ€t ist, wie giftig die entstehenden Substanzen sind und wie viele Kondensationskeime fĂŒr Wolken auf diesem Weg entstehen, soll mit den Modellen errechnet werden. Schon jetzt arbeitet die Gruppe mit StĂ€dteplanerinnen und StĂ€dteplanern zusammen, um Empfehlungen abzugeben, wo man aufgrund starker von Menschen erzeugter Luftbelastung besser weder Krankenhaus noch Pflegeheim oder Kindergarten baut.
Zur Person Lukas Pichelstorfer ist Aerosol-Physiker und arbeitet experimentell und rechnergestĂŒtzt. Die Masterarbeit in Physik an der UniversitĂ€t Wien schrieb er ĂŒber heterogene Keimbildung. FĂŒr die Dissertation an der UniversitĂ€t Salzburg modellierte er die Aerosol-Dynamik in der menschlichen Lunge. Seit 2019 erkundet der Schrödinger-Stipendiat des Wissenschaftsfonds FWF an der UniversitĂ€t Helsinki die Auswirkungen von flĂŒchtigen organischen MolekĂŒlen in der AtmosphĂ€re.
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