Katastrophenhilfe – Katastrophe oder Hilfe?
Die – verheerenden – Folgen gut gemeinter Katastrophenhilfe auf den Nikobaren nach dem Tsunami 2004 zeigt ein neuer Film, der die Ergebnisse einer FWF-Studie dokumentiert. © Simron Jit Singh

Katastrophenhilfe ist humanitäre Pflicht. Die logistische Umsetzung erfolgt oft hoch professionell und unzählige Leben werden gerettet. Doch nicht immer kann das gerettete Leben weitergeführt werden wie bisher: Katastrophen können Lebensumstände nachhaltig zerstören. Die Erkenntnis, dass aber auch die Katastrophenhilfe selbst dies bewirken kann, ist neu – und Ergebnis eines vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Projekts der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Dieses Projekt wählten Forscher der Columbia Universität in New York unter vielen als besonderes „Lehrbeispiel“ aus und stellten es als Unterrichtsmaterial ins Internet. Nun wurde der Weg des Erkenntnisgewinns – und das persönliche Engagement von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, Betroffenen und Partnern – auch von Filmemacher Raphael Barth dokumentiert und in einem 100-minütigen Werk von eindrucksvoller Intensität veröffentlicht.

Complex Disaster

Der Film erzählt die Entstehung eines sogenannten "Complex Disasters" – dessen erstmalige Beschreibung und konzeptionelle Erfassung ein Hauptergebnis des Forschungsprojekts ist. Dazu die Projektleiterin Marina Fischer-Kowalski vom Institut für Soziale Ökologie des IFF: "Ein 'Complex Disaster' tritt dann ein, wenn nach einer Naturkatastrophe humanitäre Interventionen die Fähigkeit einer indigenen Bevölkerung stark vermindern, sowohl den Wiederaufbau zu schaffen als auch nachhaltige Lebensweisen zu entwickeln, die ohne fortgesetzte Hilfe von außen möglich sind. Dies konnten wir nach dem Tsunami auf den Nikobaren erstmals wissenschaftlich dokumentieren, analysieren und kommunizieren." Tatsächlich zeigte sich insgesamt eine Unvereinbarkeit der Logik humanitärer Hilfe mit dem Anspruch an den Wiederaufbau nachhaltiger Wirtschaftssysteme. Für einen solchen Wiederaufbau entwickelte das Team um Fischer-Kowalski in den Jahren nach dem Tsunami u. a. Computermodelle, die nun Informationen bieten, welche Wirtschaftsformen unterstützenswert erscheinen, wenn man Kultur, Ressourcen und demografische Entwicklungen in einem Katastrophengebiet mitberücksichtigt.

Die zweite Flut

Doch wissenschaftliche Ergebnisse waren nur einer der Outputs der facettenreichen Arbeit des Projektteams. Gestützt auf diese half man auch bei konkreten Aufbauarbeiten vor Ort und konnte dabei enge Beziehungen zur Bevölkerung und genaue Kenntnisse ihrer Lebensweise nutzen. Bereits vor dem Tsunami hatte das Team-Mitglied Simron Jit Singh die lokale Kultur erforscht und dabei Freundschaft mit Prinz Rasheed Yusuf, Sprecher des angesehenen Nancowry Stammes-Rats, geschlossen, der nach dem Tsunami Singh um Hilfe bat. Gemeinsam mit dem Journalisten Denis Giles bemühten sich die beiden in der Folge um den Wiederaufbau. Ihre Misserfolge, die kleinen Fortschritte, ihr Lernen aus Fehlern und das Engagement unzähliger Wegbegleiter bilden nun auch den Inhalt eines vor Kurzem fertiggestellten Films: "Aftermath – Die Zweite Flut" ist ein Werk des österreichischen Filmemachers Raphael Barth. Der Film berichtet über den Einfluss von Geld, Plastikflaschen und Fast Food auf eine traditionell vom Fischfang und der Verarbeitung von Kokosnüssen lebende indigene Kultur. Er schildert die Unfähigkeit zahlreicher Non-Governmental Organisations (NGOs), ihre Hilfe nach dem Tsunami an die Bedürfnisse dieser Kultur anzupassen – selbst als VertreterInnen der NikobaresInnen konkrete Hilfswünsche äußerten. Der Film beschreibt aber auch das Engagement von Simron Jit Singh, Prinz Rasheed und Denis Giles, eine eigene NGO zu gründen, die sich um die Selbsthilfe der lokalen Bevölkerung bemüht, eine nachhaltige Wirtschaft als Ziel vor Augen hat und die Ausbildung junger NikobaresInnen organisiert. Eindringliche Worte und Bilder illustrieren so, was wissenschaftlich fundiert von Fischer-Kowalski in ihrem FWF-Projekt dokumentiert wurde. Die Kombination aus zielgerichteter Forschung und kreativer Visualisierung schafft eine neue Qualität in der Kommunikation wissenschaftlicher Arbeit und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, verantwortliche Organisationen für die langfristigen Konsequenzen von Katastrophenhilfe in traditionellen Wirtschaftssystemen zu sensibilisieren.


Zur Person Marina Fischer-Kowalski ist Gründerin und langjährige Leiterin des Instituts für Soziale Ökologie der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderen Soziale Ökologie, Gesellschaftlicher Stoffwechsel, Theorien sozialen Wandels und gesellschaftliche Ressourcennutzung.


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