Die Vielfalt Austro-PalÀstinensischer Begegnungen

SpĂ€testens mit dem Gipfeltreffen 1979 in Wien zwischen Bruno Kreisky, damals österreichischer Bundeskanzler und Chef der Sozialistischen Internationale, und Yassir Arafat, dem damaligen FĂŒhrer der palĂ€stinensischen Befreiungsbewegung PLO, rĂŒckte Ăsterreich ins politische Rampenlicht des Ringens um einen Staat PalĂ€stina. Internationale VermittlungsbemĂŒhungen pflastern seit Jahrzehnten den langen Weg zu einer friedlichen Lösung mit Israel. Der Sozialanthropologe Leonardo Schiocchet hat im Rahmen seines Lise-Meitner-Projekts des Wissenschaftsfonds FWF die Ăsterreichisch-PalĂ€stinensische Begegnung in Wien erkundet. Bis 2015 lebten SchĂ€tzungen zufolge rund 5.000 PalĂ€stinenserinnen und PalĂ€stinenser in Wien. Seitdem sind weitere rund 1.000 palĂ€stinensische FlĂŒchtlinge aus Syrien in Ăsterreich angekommen. Der Forscher vom Institut fĂŒr Sozialanthropologie der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften verwendet den Begriff Begegnung (encounter) fĂŒr sein Projekt deshalb, wie er erklĂ€rt, da seine Analyse der KrĂ€fte und Player keine einheitliche Richtung oder Bewegung erkennen lasse. Die Einstellungen gegenĂŒber dem âPalĂ€stinensischen Anliegenâ unterscheiden sich innerhalb der Community stark. Und auch unter interessierten Ăsterreicherinnen und Ăsterreichern sind die Kreisky-Adepten, die ein eigenstĂ€ndiges PalĂ€stina als humanitĂ€res Anliegen vertreten, nur eine Gruppe von mehreren.
Zugehörigkeiten arabischer Communities in Europa
Da die palĂ€stinensische Diaspora bis 1948 zurĂŒckreicht, gehören Wiener PalĂ€stinenserinnen und PalĂ€stinenser â genau wie PalĂ€stina-Interessierte in Wien - verschiedenen Generationen an. PalĂ€stinensische Communitys in der Fremde haben sich im Lauf der Jahre immer wieder wegen Konflikten oder politischen Entwicklungen auf den Weg gemacht. Sie sind nur von auĂen betrachtet eine Einheit. Kurz nach dem Start des FWF-Projekts brachte die FlĂŒchtlingsbewegung im Sommer 2015 zusĂ€tzliche Dynamik. Rasch erweiterte sich der Fokus Leonardo Schiocchets vom VerhĂ€ltnis ĂsterreichâPalĂ€stina auf das VerhĂ€ltnis Ăsterreich â Naher Osten â Arabische Welt â Islam. FĂŒr den Sozialanthropologen, der viele Jahre Erfahrung mit teilnehmender Beobachtung in PalĂ€stinensischen Communitys hat (u.a. in FlĂŒchtlingslagern im Libanon), und flieĂend Arabisch spricht, geht es im Kern darum, âwie sich Ideen vom âĂsterreichischseinâ und vom âPalĂ€stinensischseinâ auf die Begegnung auswirkenâ. Er möchte unvoreingenommen beobachten was passiert: âEs zeigt sich, dass Beziehungen oder Engagement von unterschiedlichen Erfahrungen geprĂ€gt werden, denen es auf die Spur zu kommen giltâ, so der Forscher.
Vereinfachung verweigern
Als 2015 viele FlĂŒchtlinge nach Wien kamen, die Teil der Wiener Community werden könnten, standen Fragen der Integration ganz oben auf der politischen Agenda. Derlei Vereinfachungen liegen dem Sozialanthropologen fern. Er will kein Urteil darĂŒber abgeben, wie gut die Integrationsperspektive von aus Syrien geflohenen PalĂ€stinenserinnen und PalĂ€stinensern ist. Leonardo Schiocchet interessieren âZugehörigkeiten von Menschen, die sich durch Flucht und Vertreibung anderswo niederlassen musstenâ. Im vorliegenden Projekt hat er sich im KrĂ€ftefeld und dem Beziehungsgeflecht der Austro-PalĂ€stinensischen Begegnung in Wien kundig gemacht. Dies wĂ€re jedoch ohne seine Feldforschung in den vergangenen Jahren nicht möglich gewesen. Er kann auf Erfahrungen aus unzĂ€hligen GesprĂ€chen mit Araberinnen und Arabern insbesondere PalĂ€stinenserinnen und PalĂ€stinenser zurĂŒckgreifen, die er bereits in PalĂ€stina, im Libanon, in Brasilien, DĂ€nemark, dem Irak und Ăsterreich gefĂŒhrt hat. FĂŒr seine Forschung muss er selbst Beziehungen aufbauen, um die richtigen Fragen zu stellen. So fĂŒgte er nach und nach Gemeinsamkeiten kultureller Praktiken, prĂ€gender Erlebnisse, Vorstellungen und Werte gedanklich zu sozialen Netzwerken zusammen in der vermeintlichen Einheit einer PalĂ€stinensischen Community. Die Netzwerke ticken unterschiedlich, wie der Wissenschafter aufzeigt, je nach Thema wie zum Beispiel: ReligionsausĂŒbung, Recht auf RĂŒckkehr, 25 Jahre Zweistaatenlösung, Ăsterreich als VerbĂŒndeter oder gelebte Folklore.
Neuer Forschungsansatz prÀsentiert
Der Forscher leitet aus dem Projekt einen neuartigen, mehrstufigen Theorieansatz ab, den er im Juli 2018 auf dem Weltkongresse der International Union of Anthropological and Ethnological Sciences (IUAES) der Fachwelt prĂ€sentiert hat. Seine Untersuchung könnte beispielgebend werden, wenn es um FlĂŒchtlingscommunitys weltweit geht. In einem vom FWF geförderten Einzelprojekt vertieft und erweitert Leonardo Schiocchet dieses Forschungsprogramm gerade in Bezug auf die Austro-Arabische-Begegnung.
Zur Person Leonardo Schiocchet studierte Sozialanthropologie in Brasilien und machte sein Doktorat an der Boston University. Er ist PalĂ€stina-Spezialist und forscht zu erzwungener Migration, Refugee Studies, Ritualen, Zugehörigkeiten, EthnizitĂ€t und dem VerhĂ€ltnis zwischen Nahost und Ăsterreich. Seit 2015 ist er am Institut fĂŒr Sozialanthropologie der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften tĂ€tig. Das Lise-Meitner-Projekt war eine der treibenden KrĂ€fte fĂŒr die GrĂŒndung des Refugee Outreach & Research Network.
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