Die Vermessung des Herrn Ross

Das Ende des âDritten Reichsâ ist auch das Ende des Colin Ross. Nicht nur, dass der in den 1920ern und 30ern ungemein populĂ€re Reiseschriftsteller, -filmer und -vortragende Ende April 1945 Suizid begeht, mit ihm verschwindet auch sein Werk aus dem allgemeinen Bewusstsein. Colin Ross fĂ€llt dem Vergessen anheim. âBis ich 2013 gefragt wurde, an dem Projekt teilzunehmen, hatte ich von ihm noch nie gehörtâ, sagt Nico de Klerk, Leiter des FWF-Projekts Welterkundung zwischen den Kriegen. Die Reisefilme des Colin Ross, das in Zusammenarbeit mit der Ludwig Boltzmann Gesellschaft und dem Ăsterreichischen Filmmuseum durchgefĂŒhrt wurde. Binnen kĂŒrzester Zeit arbeitet der 1885 in Wien geborene Ross sich zu einem Virtuosen des Einsatzes moderner Medien empor. Zwischen 1910 und 1945 verbucht er mit âetwa 1.200 Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, 35 BĂŒchern, sechs Filmen und zahlreichen (illustrierten) VortrĂ€gen beachtlichen Erfolgâ, so de Klerk. Nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch international.
Multimedial
Dabei ist Ross nicht der Einzige, der Europas staunendes Publikum zwischen den Kriegen mit Berichten aus fremden LĂ€ndern in Wort, bewegtem Bild und Ton unterhĂ€lt. Nur Ross hat sehr frĂŒh schon ein GeschĂ€ftsmodell erarbeitet, âdas mehrere, miteinander verknĂŒpfte Medien in Anspruch nahm und die Teilfinanzierung aufgrund von Vereinbarungen mit Zeitungen und Zeitschriften miteinschlossâ, erlĂ€utert de Klerk im GesprĂ€ch mit scilog. Sein Verlag F. A. Brockhaus positioniert ihn als Familienvater, der mit Frau und Kindern reist, und als AutoritĂ€t auf dem Gebiet der Geopolitik. Dass seine Filme von dem deutschen Filmunternehmen UFA produziert werden, trĂ€gt zusĂ€tzlich zu seinem Ruf bei. Damit nicht genug, Ross ist ein Perfektionist im Einsatz der Medien. Aus abendfĂŒllenden Filmen entnimmt er kleine Ausschnitte fĂŒr seine VortrĂ€ge. Gleichzeitig achtet er aber auf die QualitĂ€t der Illustrationen seiner BĂŒcher, fĂŒr die er ausschlieĂlich eigens angefertigte Fotografien verwendet. âEr war fĂŒr lange Zeit gleichzeitig in mehreren verschiedenen Medien prĂ€sent. Das fand ich an ihm interessantâ, hĂ€lt de Klerk fest. Das war letztlich auch, was das Projekt ins Leben rief.
Vom Journalisten zum Propagandisten
Mit der Zeit indes Ă€ndert sich nicht nur das VerhĂ€ltnis zwischen Text und Foto in den BĂŒchern von Ross (so werden mehrere Bilder auf mehreren Seiten unter einem ĂŒbergreifenden Titel vorgestellt und ergĂ€nzen den Text), es wandelt sich auch die ErzĂ€hlperspektive. Wechselt Ross erst zwischen der persönlichen ErzĂ€hlung und der distanzierten ErlĂ€uterung, geht er zusehends zum rein deskriptiven Ton ĂŒber. Und nicht nur das. 1933 âkonvertiertâ er zum Nationalsozialismus. Das narrative ErzĂ€hlen weicht in den folgenden Jahren der beschreibenden ErzĂ€hlung. Mit dem Buch âAmerikas Schicksalsstundeâ (1935) wandelt sich der reisende Journalist in den Propagandisten, produziert den politischsten Bericht seiner Laufbahn und diagnostiziert die Chance auf eine VerstĂ€ndigung zwischen Roosevelt und Hitler.
Ungehört
Von Oktober 1938 bis JĂ€nner 1939 hĂ€lt sich Ross ein letztes Mal in den USA auf. 1942 erscheint seine Abrechnung mit den Vereinigten Staaten, Die Westliche HemisphĂ€re. Nicht nur eine Darstellung Amerikas als expansive Macht, auch eine Dokumentation seiner eigenen, geopolitischen EinschĂ€tzungen â die in Berlin allerdings niemals Gehör fanden. Politische Bedeutung erlangte der populĂ€re und nĂŒtzliche Herr Ross nie.
Zur Person Nico de Klerk ist als Wissenschafter zu Filmgeschichte, Archivar und Kurator tĂ€tig. 2015 promovierte er an der UniversitĂ€t Utrecht (Showing and telling: film heritage institutes and their performance of public accountability, Wilmington 2017). Zuletzt leitet de Klerk das FWF-Projekt Welterkundung zwischen den Kriegen. Die Reisefilme des Colin Ross (1885â1945) am Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Geschichte und Gesellschaft in Wien.
Projektwebsite: www.colinrossproject.net
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