Die Statistik des Unsichtbaren
Wabernde Gasnebel, glitzernde Sternhaufen und majestĂ€tische Galaxien â so zeigt sich unser Universum durch die Linsen moderner Weltraumteleskope wie Hubble und Webb. Das All erscheint von einer leuchtenden Struktur durchzogen. Doch was unseren Kosmos wirklich prĂ€gt, bleibt auf diesen Bildern unsichtbar.
Wie astronomische Messungen zeigten, liegt versteckt zwischen all den hĂŒbschen Sternen, Nebeln und Galaxien eine unbekannte Welt. Dieser als âdunkles Universumâ bekannte Teil des Kosmos hat zwei Bestandteile: dunkle Materie und dunkle Energie. Erst diese beiden KrĂ€fte ergeben gemeinsam mit der herkömmlichen Materie das Standardmodell der Kosmologie.
âDieses Modell ist eine sehr gute Beschreibung des Universums, da es Beobachtungen auf unterschiedlichsten GröĂen- und Zeitskalen erklĂ€ren kannâ, sagt die Astrophysikerin Laila Linke von der UniversitĂ€t Innsbruck. âWir wissen, dass dieses Modell dunkle Materie und dunkle Energie enthalten muss, wir wissen aber nicht, worum es sich dabei handelt.â
Dunkle RĂ€tsel
Dunkle Materie liefert zusÀtzliche Schwerkraft, um etwa Galaxien und Galaxienhaufen zusammenzuhalten, die es ohne die rÀtselhafte Substanz nicht geben könnte. Dunkle Energie dagegen bewirkt die beschleunigte Expansion des Universums, wie Messungen an entfernten Sterneninseln zeigen. Doch völlig offen ist, was hinter den beiden KrÀften steckt. Fachleute haben zur dunklen Materie zahlreiche Theorien vorgeschlagen. Die Ideen reichen von unbekannten, massereichen Teilchen, die kaum mit Materie interagieren, bis hin zu einer Population aus verschiedenen schwarzen Löchern, die kurz nach dem Urknall entstanden ist.
Dunkle Energie lĂ€sst den Kosmos wie einen Kuchen aufgehen. Doch Versuche, diesen Ăberdruck etwa mit Einsteins âkosmologischer Konstanteâ zu erklĂ€ren, ĂŒberzeugen bisher nicht: Der so vorhergesagte Wert fĂŒr die dunkle Energie liegt um viele GröĂenordnungen daneben. Weltweit jagen Wissenschaftler:innen nach Antworten auf die RĂ€tsel des dunklen Universums â eine Aufgabe, deren Bedeutung nicht ĂŒberschĂ€tzt werden kann, denn wie Berechnungen zeigen, macht die gewöhnliche Materie nur fĂŒnf Prozent aller im Kosmos enthaltenen Masse aus. Der Löwenanteil des Universums ist also dunkel.
Verzerrte Galaxien
Licht in das dunkle Universum zu bringen, diesem Ziel hat sich die Euclid-Mission der EuropĂ€ischen Weltraumagentur ESA verschrieben. Doch wie kommt die am ersten Juli dieses Jahres gestartete Sonde ihren unsichtbaren Beobachtungszielen nĂ€her? Linke erklĂ€rt: âKonkret wird Euclid Galaxien vermessen, und zwar ĂŒber etwa ein Drittel des Himmels hinweg.â Euclid wird planmĂ€Ăig die Form von unglaublichen eineinhalb Milliarden Galaxien vermessen, die teils weit entfernt sind. Da groĂe Distanz im All wegen der endlichen Lichtgeschwindigkeit gleichbedeutend mit einem Blick in die Vergangenheit ist, enthalten Euclids Daten auch Informationen ĂŒber die zeitliche Entwicklung des Alls.
Um den RĂ€tseln des kosmologischen Standardmodells auf die Schliche zu kommen, betrachten Fachleute vor allem die Formen der Galaxien: Wie bereits Hubble-Bilder eindrĂŒcklich zeigen, gleicht keine Galaxie der anderen. Dennoch lassen sich die Sterneninseln danach ordnen, wie weit sie vom Kreis abweichen. âWir sprechen dabei von ElliptizitĂ€tâ, erlĂ€utert Linke.
Jede Galaxie ist also mehr oder wenig eiförmig. Doch es gibt einen Haken: Ihre wahre Form können wir von der Erde, selbst mithilfe von Weltraumteleskopen, nicht wahrnehmen. Das liegt am Gravitationslinseneffekt: Passiert Licht auf seinem Weg zu uns eine Ansammlung von Materie, wird es von seinem Pfad abgelenkt, da die Masse den Raum krĂŒmmt und den Lichtstrahlen so neue Wege aufzwingt. Dieser Vorgang hat spektakulĂ€re Folgen: Galaxien, die hinter massereichen Galaxienhaufen liegen, schlagen wilde Bögen oder werden sogar mehrfach abgebildet. Da beinahe jede Sichtlinie zwischen extragalaktischen Objekten und der Erde an Massenansammlungen vorbeifĂŒhrt, ist praktisch jedes Bild verzerrt â wenn auch mitunter nur geringfĂŒgig.
Kosmologie der Vielen
Doch von der Verzerrung einer Galaxis lĂ€sst sich noch nichts ĂŒber das dunkle Universum lernen: âGalaxien können an sich elliptisch sein. An einzelnen Exemplaren sehen wir also nicht, wie viel davon durch Gravitationslinsen entstanden istâ, erklĂ€rt Linke. Daher werten die Astrophysikerin und ihr Team mehrere Sterneninseln gleichzeitig aus. âWir messen die ElliptizitĂ€t vieler benachbarter Galaxien. Waren sie alle zufĂ€llig orientiert, fĂ€llt deren intrinsische ElliptizitĂ€t im Mittelwert wegâ, so Linke. âĂbrig bleibt also nur der Anteil, der auf Gravitationslinsen zurĂŒckgeht.â Ist die Galaxiengruppe also in eine gemeinsame Richtung verschmiert â Fachleute sprechen von Scherung â, fĂ€llt das mit dieser Methode auf.
Damit lĂ€sst sich etwas ĂŒber die Verteilung der Masse im Kosmos aussagen â wertvolle Information, wie Linke weiĂ: âDadurch können wir zwei Dinge verstehen: Zum einen, wie sich Strukturen im Universum gebildet haben. Und zum anderen können wir aus VerĂ€nderungen der Massenverteilung im Laufe der Zeit auf die Expansionsgeschichte des Alls schlieĂen, die durch dunkle Energie bestimmt ist.â
Die Massenverteilung ist eine statistische GröĂe, die fĂŒr kosmologische Aussagen relevant ist. Kennt man sie fĂŒr jeden Abstand, wissen wir, wie sich Materie in der Vergangenheit geballt hat oder auseinandergedriftet ist. Doch um an die Parameter der Verteilung, wie etwa die Varianz, zu kommen, mĂŒssen Fachleute in den Datenbergen von Sonden wie Euclid wĂŒhlen.
Linke erklĂ€rt die bisherige Methode: âAusgehend von einer Galaxie vergleichen wir die ElliptizitĂ€t vieler Galaxienpaare im gleichen Abstand. Damit wissen wir, wenn es an einem Punkt eine gewisse Verzerrung gibt, wie groĂ die Scherung an einem anderen Ort ist. Diese Information korreliert mit der Varianz der Massenverteilung.â
Neue Methode
Doch da die kosmische Massenverteilung nicht gauĂförmig ist, sondern komplizierter aussieht, reicht die Varianz nicht aus, um sie zu charakterisieren. Es braucht mehr Information. Anstatt jeweils Paare zu bilden, gruppiert Linke daher die Galaxien zu Dreiergespannen. âDadurch erhalten wir ein höheres Moment der Verteilung, das von den Parametern der Verteilung anders abhĂ€ngtâ, sagt Linke. âGemeinsam mit den Messungen an den Paaren lernen wir durch die DreiergrĂŒppchen mehr ĂŒber die Massenverteilung.â
Obwohl diese statistische Methode tiefe Einblicke in den Kosmos erlaubt, wurde sie bisher kaum eingesetzt. Der Grund: Um je drei Galaxien miteinander zu vergleichen, braucht es bei den gigantischen Galaxienkatalogen erhebliche Rechenleistung â die es bis vor Kurzem nicht gab. Linke konnte allerdings zeigen, dass dieses Problem mit Grafikkarten behebbar ist.
DarĂŒber hinaus fehlten jedoch praktische Algorithmen. Das soll sich im Rahmen des vom FWF geförderten ESPRIT-Projekts von Linke Ă€ndern. âDie Modelle der Statistik dritter Ordnung sind zudem komplizierter, es treten systematische Effekte auf, die bisher nicht berĂŒcksichtigt wurden. Das mĂŒssen wir jetzt einfach mal machenâ, ergĂ€nzt Linke.
Momentan feilen die Astrophysikerin und ihr Team noch an ihren Methoden. Doch sobald Euclid erste Daten zur Erde schickt, werden wir ein neues Tool haben, den Datenmengen Informationen zur unsichtbaren Seite des Kosmos zu entlocken. Mögen einzelne Objekte noch so faszinierend sein, eines ist klar: In der Statistik liegt der SchlĂŒssel zum dunklen Universum.
Zur Person
Laila Linke ist Astrophysikerin am Institut fĂŒr Astro- und Teilchenphysik der UniversitĂ€t Innsbruck. Nach einem Physikstudium in Heidelberg promovierte Linke 2021 an der UniversitĂ€t Bonn in Astronomie. Dort war sie als Postdoktorandin tĂ€tig, bis sie 2023 nach Innsbruck wechselte, um sich weiter Fragestellungen rund um das dunkle Universum und die Entstehung von Galaxien zu widmen. Dabei arbeitet Linke nicht mit dem Teleskop, sondern analysiert Daten groĂer Himmelsdurchmusterungen am Computer, wobei sie neue Methoden entwickelt, um mithilfe von Gravitationslinseneffekten kosmologische Modelle zu prĂ€zisieren. Das Projekt âKosmologie und Galaxienausrichtungen mit Lensing 3. Ordnungâ (2023â2026) wird vom FWF mit rund 316.000 Euro gefördert.