Die mit den zwei Türen
Zum Vermächtnis des berühmten amerikanischen Physikers Richard Feynman gehört der Satz, dass man mit Sicherheit sagen könne, dass niemand Quantenphysik verstehe. Ein interessanter Satz – vor allem wenn man weiß, dass Feynman selbst Quantenphysiker war. Auch Beatrix Hiesmayr von der Universität Wien weiß um die Schwierigkeiten, die ihr Fachgebiet bei anderen Menschen auslöst. Die 45-jährige Physikerin will den Leuten sichtbar die Angst nehmen. Deshalb schickt sie vor einem Gespräch freundlich den Feynman-Satz per Mail durch, damit man weiß, dass man dabei nur produktiv scheitern kann.
Die Quantentheorie ist eine der großen Theorien der Physik. Mit ihr lässt sich wunderbar arbeiten und rechnen. Es gibt allerdings zwei große Probleme: Sie lässt sich nicht mit der Relativitätstheorie, einer weiteren großen Theorie der Physik, vereinen. Und zweitens weiß niemand genau, was sie eigentlich bedeutet. Nicht einmal die Quantenphysikerinnen und -physiker selbst.
Konträr zum Alltag
„Die Quantenphysik ist konträr zu unseren Alltagserfahrungen“, sagt Hiesmayr, wenn man sie fragt, was diese so schwer verständlich mache. „Wenn wir zwei Türen vor uns haben, müssen wir uns entscheiden und können nicht durch beide gleichzeitig gehen. Quantenteilchen können das, solange sie nicht beobachtet werden können.“ Superposition nennt man das. Wie bei Schrödingers berühmtem Gedankenexperiment von der Katze, die gleichzeitig tot und lebendig ist, solange man die Box nicht öffnet. Das ergibt keinen Sinn. Genauer gesagt: Es ergibt keinen Sinn in der Welt der großen Teilchen, deren Gesetze wir kennen. In der Welt der kleinsten Teilchen, da gelten andere Gesetze.
Das große Ganze
Hiesmayr ist theoretische Physikerin im Bereich der Quanteninformationstheorie. Aber das beschreibt ihre Arbeit etwas unzureichend. „Ich bin breit angelegt in der Physik“, sagt sie. Sie sei hauptsächlich in der Theorie, rechne also gerne. „Aber ich bin sehr an Experimentellem interessiert. Ich möchte, dass die von mir errechneten Dinge auch umgesetzt werden.“
Zur Person
Beatrix Hiesmayr studierte Physik an der Universität Wien und lehrte und forschte anschließend in mehreren Ländern. Die Dissertation der gebürtigen Wienerin wurde mit dem Bank-Austria-Preis und dem Victor Franz Hess-Preis der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft ausgezeichnet. Nach ihrer Habilitation in theoretischer Physik gründete sie die Quantum Particle Workgroup an der Universität Wien.
„Ich möchte, dass die von mir errechneten Dinge auch umgesetzt werden.“
Aktuell arbeitet sie in zwei Projekten, die beide vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert werden: „Ein quanteninformationstheoretischer Zugang zu Systemen in der Hochenergiephysik“ und „Klassifizierung von Verschränkung in komplexen Systemen und Anwendungen“. Schwere Brocken. Und man muss als Nicht-Physiker auch noch dazu wissen, dass das gar nicht unbedingt sehr naheliegende Bereiche sind. Es ist quasi nicht der fokussierte Blick auf die kleinsten Teilchen, sondern eher der interessierte Blick auf das Gesamtsystem. „Meine Arbeit berührt viele verschiedene Gebiete der Physik. Die zu kombinieren, daraus ein großes Ganzes zu machen, neue Erkenntnisse zu gewinnen, das macht mir Spaß.“
Grundlagenforschung
Vieles, was Hiesmayr tut, steht mit einem Bein noch in dem, was man als „Grundlagenforschung“ bezeichnet. Also Erkenntnisse zu gewinnen, die nicht auf einen direkten Zweck oder Verwertung ausgerichtet sind. Besonders viel beschäftigt sie sich mit dem Phänomen der „Verschränkung“, für das es historisch auch einen schönen, aber leider wenig akkuraten Begriff gibt („spukhafte Fernwirkung“). Grob gesagt bedeutet Verschränkung, dass es zwischen Teilchen eine Verbindung gibt, ohne dass sie physisch verbunden sind. Wenn ich ein Teilchen nach einer Information „frage“, dann weiß das andere, was ich gefragt habe. „Das ist extrem merkwürdig, weil die Teilchen dazwischen nicht kommunizieren können“, sagt Hiesmayr. „Und weil man beweisen kann, dass sie es nicht vorher ausmachen.“ Für Physikerinnen und Physiker seien diese Eigenschaften sogar noch „schlimmer“, also weniger verständlich als die Superposition. „Ich untersuche die Verschränkung bei hoher und niedriger Energie. Das ist im Prinzip noch dieselbe Theorie, aber die Ergebnisse der Experimente sind ganz unterschiedlich.“
Mehr als Nullen und Einsen
In ihrer Forschung geht es an vielen Stellen um den Begriff der Quanteninformation. Klassische Systeme – mit denen zum Beispiel unsere Computer oder Handys funktionieren – codieren Information binär in Nullen und Einsen. Das tut das Quanten-Bit im Prinzip auch, es ist aber intern anders codiert. Man könne es sich wie eine Kugel vorstellen, sagt Hiesmayr, es könne viel mehr Information weitergeben. „Wir müssen den Begriff ‚Information‘ anders denken als Nullen und Einsen.“
„Wir Physikerinnen und Physiker haben etwas sehr Schönes: die Mathematik.“
Aber wie denkt man überhaupt etwas, das sich eigentlich nicht denken lässt? „Wir Physikerinnen und Physiker haben etwas sehr Schönes: die Mathematik“, sagt die Forscherin. Die Quantentheorie sei aus mathematischer Sicht vergleichsweise einfach, nach einem Semester könne man gut damit rechnen. Man müsse sich die mathematischen Regeln wie ein Kochrezept vorstellen. „Ich muss nicht wissen, warum ich Eigelb und Eiweiß trennen muss, um einen Kuchen zu backen. Aber wenn ich es wüsste, würde mir das vielleicht auf dem Weg zu einem noch besseren Kuchen helfen.“
Verschiedene Interpretationen
Mit der Quantentheorie lässt sich also gut rechnen, aber das sagt einem nicht, was wirklich passiert. Es gibt mehrere Interpretationen, was die Ergebnisse eigentlich bedeuten könnten. Die berühmteste Interpretation ist die, die bereits angeschnitten wurde: Das Quantenteilchen geht durch beide Türen gleichzeitig. Eine andere, die Bohm’sche Interpretation, besagt, dass das Teilchen nur durch eine Tür geht, aber weiß, dass es die andere Tür gibt, und sich dementsprechend verhält. Auch die Theorie der Multiversen (jedes Mal, wenn ein Teilchen vor mehreren Türen steht, bildet sich für jede Entscheidungsmöglichkeit ein Universum) ist eine mögliche Interpretation. Diese Lesarten sind im Prinzip alle gleichwertig, wobei manche viele, andere sehr wenige Anhängerinnen und Anhänger haben. Aber für die Arbeit mit der Theorie spielt es zum Glück keine Rolle, welcher Interpretation ich folge.
Relativitätstheorie versus Quantentheorie
Das klingt alles für Laiinnen und Laien wahnsinnig seltsam. Und gar nicht mal nur für sie. „Die meisten Väter der Quantentheorie haben sich beklagt, dass sie sich je damit beschäftigt haben“, sagt Hiesmayr lächelnd. Die physikalische Gemeinschaft habe sich sehr angestrengt, die Theorie zu widerlegen. Manch einem würde noch heute „ein Stein vom Herzen fallen“, wenn das endlich gelänge. „Aber alles, was wir bislang gefunden haben, steht im Wesentlichen nicht im Widerspruch zu der Theorie.“ Das Problem ist nicht nur, dass sie den Alltagserfahrungen widerspricht. Sondern sie lässt sich auch nicht mit der Allgemeinen Relativitätstheorie vereinen. Mit beiden lässt sich wunderbar rechnen, sie haben sich in zahlreichen Experimenten bewährt.
„Verschiedene Sichtweisen auf ein Problem führen zu besseren Erkenntnissen.“
Nur können sie eigentlich nicht beide stimmen – hauptsächlich, weil der Faktor „Zeit“ in der Quantentheorie nur ein Parameter ist, in der Relativitätstheorie aber mit dem Raum zusammenhängt. Ein Problem, das die Physikwelt seit Langem in Atem hält. „Eigentlich sollten wir die beiden Theorien irgendwie zusammenbringen können, aber wir scheitern kläglich daran. Wir haben noch keinen Clue, wie wir das hinkriegen sollen.“ Man müsse lernen, dass verschiedene Sichtweisen auf ein Problem zu besseren Erkenntnissen führen, so lasse sich die Diskrepanz besser aushalten.
In die Anwendung
Die Quantenphysik ist jetzt über 100 Jahre alt und bringt die Wissenschaft immer noch zum Staunen und Verzweifeln. Aber mittlerweile ist man auch mitten in der „zweiten Revolution“, also in der Anwendung. „Wir haben auch gelernt, die Theorie auszunützen“, sagt Hiesmayr. „Wir können die Teilchen erzeugen, manipulieren und messen.“ Eines der Anwendungsfelder ist beispielsweise die Quantenkryptografie. Herkömmliche Kryptografie basiert darauf, dass man sie zwar entschlüsseln kann, die dafür notwendigen Rechenschritte aber so kompliziert sind, dass man das richtige Ergebnis nur in einem sehr unwahrscheinlichen Fall in einem akzeptablen Zeitraum findet. Quantenkryptografie nutzt die Gesetze der Quantenphysik und hat dadurch einen großen Vorteil zur herkömmlichen Kryptografie: Weil der Beobachter oder die Beobachterin Dinge verändert, kann man im Protokoll sehen, wenn man abgehört wurde. Wie bei einem Buch, das man verändert, wenn man es liest.
Der Quantencomputer
Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist der Quantencomputer, der das Potenzial hat, die Art, wie wir mit Computern rechnen, zu verändern. Ein klassischer Computer macht einen Rechenschritt nach dem anderen, ein Quantencomputer kann parallel mehrere Rechenschritte durchführen. Der Algorithmus muss dann nur mehr so gebaut werden, dass das richtige Ergebnis wahrscheinlicher ist als die falschen, erklärt Hiesmayr. Im Grunde sei das eine komplett neue Art zu rechnen. „Wir sind schon sehr nah dran am Quantencomputer, mehr in der Kleinkind- als in der Babyphase.“ Gerade im letzten und vorletzten Jahr habe man gewaltige Fortschritte gemacht. Die Probleme sind vor allem technischer Art: So funktionieren bestimmte Methoden zur Fehlerkorrektur, die herkömmliche Computersysteme nutzen, bei einem Quantencomputer nicht richtig. Und dann muss man das System eben auch abschotten, also nicht beobachtbar machen. Zum Beispiel indem man es auf wenige Millikelvin herunterkühlt. Das ist sehr, sehr kalt. Im Weltall hat es immerhin drei Kelvin.
„Wir sind schon sehr nah dran am Quantencomputer. “
Die Anwendungen, die man bislang mit einem Quantencomputer gelöst hat, waren eher einfacher und singulärer Natur. Bis man wirklich einen Prototyp hat, der eine Vielzahl unterschiedlicher Tasks ausführen kann, wird es wohl doch noch eine Weile dauern. Es ist aber auch nicht so, als würde er den klassischen Computer prinzipiell unbrauchbar machen. Laut Hiesmayr liegt der sinnvollste Weg in einer Kombination aus beiden: Der herkömmliche Supercomputer macht das, was er gut kann, und gibt nur die Rechenschritte, die bei ihm zu lange dauern würden, an einen Quantencomputer.
Mehr Information durch Quantenbits
Und dann gibt es auch noch ein ganz konkretes Anwendungsbeispiel, an dem auch Hiesmayr mitarbeitet. Medizinerinnen und Mediziner in Polen haben einen Weg gefunden, die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) zu verbessern. Das ist ein nuklearmedizinisches Verfahren, das seit den 70er-Jahren zur Entdeckung von Krebs genutzt wird. Das Prinzip ist einfach, zumindest aus Sicht einer Physikerin oder eines Physikers: Den Betroffenen wird nuklear markierter Zucker gespritzt. Der verteilt sich im Körper und sendet Antiteilchen aus. Die suchen sich ihr Gegenstück – ein Elektron –, die beiden wandeln sich wiederum in zwei Gammas. Die Gammas kann man mit dem PET-Gerät registrieren und weiß dann, wo im Körper sie entstanden sind. Und weil Krebs vor allem Energie – also Zucker – braucht, deutet eine höhere Strahlung an ungewöhnlichen Stellen auf Krebs hin.
Hier kommen Hiesmayr und ihre Forschung ins Spiel. „Die zwei Gammas müssten nach allem, was wir wissen, miteinander verschränkt sein. Aber das ist noch nie experimentell nachgewiesen worden.“ Daran arbeite man gerade mit Hochdruck. Das sei zum einen spannende Grundlagenforschung. Aber in Zukunft könnte man das Verfahren so auch deutlich verbessern. „Wenn die Gammas verschränkt sind, sagt mir dieses Zuckermolekül sehr viel mehr als nur den Ort, wo es gerade ist“, sagt Hiesmayr. In ihm steckt nämlich auch Information über die Umgebung, in der es entstanden ist. „Wir wollen die Quanteninformationen herausholen und den Ärztinnen und Ärzten Quantenmarker geben: Welcher Krebs ist es, in welchem Stadium ist er.“ Also bessere Diagnose durch Ausnützung der Quanteninformation.
Zwischen Theorie und Praxis
Beatrix Hiesmayr, deren Liebe zu ihrem Fach in der Schule eher durch Zufall und eine engagierte junge Lehrerin geweckt wurde, bewegt sich durch verschiedene Bereiche der Physik und pendelt zwischen Theorie und Anwendung. Wenn man so will, geht auch sie gleichzeitig durch mehrere Türen, wie ein Quantenteilchen. Sie habe viele Ideen und Dinge, die sie gerne verfolgen würde. „Wenn man ein Problem gelöst hat, dann tun sich auch gleich immer mehrere neue auf. Es geht immer weiter, weiter, weiter“, sagt sie. Aber es mache auch noch immer Spaß. „Routine würde mich abschrecken.“