Das Ankommen als Gegenstand der Fotografie. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt will Migration neu denken. © Michael Parzer/Uni Wien

Auch wenn Europa Kriege gerne ins Museum stellen und Migration steuern würde: Die Gegenwart hält sich nicht daran. Gerade eben flüchten Ukrainer:innen zu Tausenden vor dem russischen Krieg. Was soll die österreichische Gesellschaft, die heimische Verwaltung und die (inter-)nationale Politik mit ihnen und für sie tun? Welche Erfahrungen werden sie beim Ankommen in Österreich sammeln und wer sorgt wie für Integration? Weil Migration ein Dauerthema bleibt, wollen die Soziolog:innen Michael Parzer, Ana Mijić und Lisa Bock von der Universität Wien im transdisziplinären Projekt „Die Kunst des Ankommens“ Themen und Methoden ihrer wissenschaftlichen Forschung aktualisieren.

„Wir wollen die transformative Kraft der Kunst von der Entstehung bis zur Rezeption nutzen“, sagt Projektleiter Michael Parzer und ergänzt: „Die künstlerische Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Ankommens kann eine Schnittstelle für die Umdeutung von Begriffen und Annahmen, für neue Perspektiven, alternative Wahrnehmungen und Utopien in der postmigrantischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sein.“ Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit mit neun ausgewählten Künstler:innen mit und ohne Fluchterfahrung aus Literatur, Musik und Fotografie ist das Unbehagen der Migrationsforscher:innen mit dem althergebrachten Integrationsbegriff, also der Vorstellung von Minderheiten in einer Gesellschaft, die sich an die Mehrheit anpassen und ihr unterwerfen müssen.

Erfahrungen des Ankommens verarbeiten

„Alle angesprochenen Künstler:innen waren sofort Feuer und Flamme“, erzählt Lisa Bock. In drei Teams wurden sie beauftragt, ein Kunstwerk in ihrem Genre zu schaffen, in das Erfahrungen des Ankommens einfließen. Dabei wurde in einem Real-World-Laboratorium der Schaffensprozess dokumentiert und beobachtet. „Wir haben je eine:n Künstler:in ohne offenkundige Fluchterfahrung, eine:n mit einer länger zurückliegenden Fluchterfahrung aus dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 1990er-Jahre und eine:n mit Fluchterfahrung aus dem Krieg in Syrien 2015/2016 zusammengespannt“, berichtet die Projektmitarbeiterin. Zum Auftakt erläuterten die Soziolog:innen ihre Methoden und stellten das Einverständnis über die wissenschaftliche Begleitung her.

Blick ins Atelier auf den fotografisch-künstlerischen Forschungsprozess. © Lisa Bock/Uni Wien

Gerade werden die Audio- und Videoaufnahmen sowie Team-Chats zum Projekt ausgewertet. Zugunsten der inhaltlichen Offenheit werden erst jetzt Hypothesen gebildet. Spannend findet Michael Parzer besonders Übersetzungsleistungen, die die Soziolog:innen für ihre Methodenentwicklung in der „superdiversen“ Gesellschaft der Jetztzeit nutzen wollen. Neben den verschiedenen Sprachen kommen in den Teams unterschiedliche kulturelle Codes und künstlerische Traditionen zusammen, und es geht um den Austausch über Fluchterfahrungen, die Übersetzung in die ästhetische Praxis und natürlich den Austausch von (noch) ankommenden mit etablierten Künstler:innen.

Vielfache Übersetzungsprozesse

„Den Begriff Integration haben wir im Projekt durch den Begriff Ankommen des deutschen Soziologen Ludger Pries ersetzt: Er ist weniger vorbelastet und berücksichtigt das prozesshafte Wesen des Ankommens, das auch von der aufnehmenden Gesellschaft abhängt“, erklärt Ana Mijić. Parallel zu den Auswertungen aus Schritt eins bitten die Forschenden in der zweiten Phase gemischte Gruppen zur Diskussion über die Kunstwerke. In Phase eins sind drei Musikstücke entstanden, die sich aufeinander beziehen, eine gemeinsam geschriebene Kurzgeschichte und eine aufbereitete Dokumentation des Gruppenchats zum fotografischen Werk. Auch diese Gespräche werden anonymisiert dokumentiert. Es soll untersucht werden, inwiefern die künstlerische Übersetzung bei den Betrachter:innen Konzepte wie „Integration“ in Bewegung bringen und alternative Sichtweisen auf das Ankommen von Geflüchteten bereitstellen können. Gemeinsam mit den zentralen Erkenntnissen aus der Forschung sollen die Kunstwerke nach Projektende im Rahmen einer Veranstaltung präsentiert werden.

Zudem bemühen sich Michael Parzer, Ana Mijić und Lisa Bock aktuell darum, geflüchtete Ukrainer:innen in das Projekt zu integrieren. In Schritt drei wird bis März 2023 das Feedback der Rezipient:innen an die neun Künstler:innen zurückgespielt und abschließend werden die Erfahrungen und Forschungsergebnisse noch einmal besprochen. Das transdisziplinäre Projekt „Die Kunst des Ankommens“ wird im 1000-Ideen-Programm des Wissenschaftsfonds FWF umgesetzt, das Forschungsideen und -ansätze außerhalb des Mainstreams fördert. Wichtig für das Projektteam war in diesem fachlichen Neuland das unterstützende Advisory Board.


Zur Person

Michael Parzer studierte Soziologie und Musikwissenschaft in Linz und Wien und ist seit 2019 Assistenzprofessor am Institut für Soziologie der Universität Wien. In seinen Forschungsarbeiteten widmet er sich der kultursoziologischen Untersuchung sozialer Ungleichheit(en); zu weiteren Arbeitsschwerpunkten zählen Flucht, Migration, Kunst und Methoden der empirischen Sozialforschung.


Projektwebsite: https://artofarriving.univie.ac.at


Publikationen

Mijić A., Parzer M.: The Art of Arriving: A New Methodological Approach to Reframing “Refugee Integration”, in: International Journal of Qualitative Methods, 21, 1–9, 2022

Parzer M.: Double burden of representation: How ethnic and refugee categorisation shapes Syrian migrants' artistic practices in Austria, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 47(11), 2021