Schwarz-weiß-Aufnahme der Schriftstellerin Friederike Mayröcker im Alter von 90 Jahren vor einer Wand mit Wörtern
Am 20. Dezember 2024 wĂ€re die Schriftstellerin Friederike Mayröcker (1924-2021) 100 Jahre alt geworden. © Herbert Neubauer / APA / picturedesk.com

Im angloamerikanischen Raum werden Menschen, denen ĂŒber gesellschaftliche Grenzen hinweg großer Respekt und AuthentizitĂ€t zugestanden wird, gerne als „national treasure“ bezeichnet. Ein solcher „Nationalschatz“ war die 2021 verstorbene österreichische Lyrikerin Friederike Mayröcker zweifellos. Nicht nur, weil sie eine der großen SympathietrĂ€ger:innen der heimischen Literaturszene war, sondern auch, weil sie wie kaum eine andere fĂŒr kĂŒnstlerische AuthentizitĂ€t stand. Mayröcker hat schlicht verkörpert, was sie getan hat. Ihre „poetische Existenz“ – eine Bezeichnung, die sie selbst geprĂ€gt hat – war ein Gesamtkunstwerk, in dem Leben und Schreiben eine Einheit bildeten. Am 20. Dezember 2024 wĂ€re Mayröcker 100 Jahre alt geworden.

„Ihre melancholische und scheu wirkende Erscheinung, geprĂ€gt von ihrem langen schwarzen Haar und ihrer geradezu altösterreichischen Höflichkeit, verlieh ihr die Aura einer Sprachhohepriesterin“, erinnert sich die Literaturwissenschaftlerin und Mayröcker-Expertin Eleonore De Felip von der UniversitĂ€t Innsbruck, die auch selbst mit der KĂŒnstlerin gut bekannt war. „Ihre Verse handeln von nichts anderem als von ihrem Innenleben. Sie hat ihr Leben gelebt, indem sie es aufgeschrieben hat. Nur so konnte sie in ihrer Lyrik eine IntensitĂ€t entwickeln, die sonst kaum in literarischen Werken anzutreffen ist.“ De Felip arbeitet daran, dieser „lyrischen IntensitĂ€t“ Mayröckers auf die Spur zu kommen und sie zu einem literaturwissenschaftlichen Analysekriterium zu machen.

In einem kĂŒrzlich beendeten Forschungsprojekt, das vom Elise-Richter-Programm des Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde, nĂ€hert sich die Wissenschaftlerin dem PhĂ€nomen aus verschiedenen Richtungen. Dazu gehören etwa historische Diskurse zu literarischer IntensitĂ€t, psychologische Aspekte von Wahrnehmung und emotionaler SensibilitĂ€t, Betrachtungen zur Kulturgeschichte der Melancholie oder auch AnsĂ€tze, die Literaturwissenschaft und Kognition zusammen denken. Gleichzeitig werden philosophisch-Ă€sthetische EinflĂŒsse Mayröckers, etwa durch Jacques Derrida, berĂŒcksichtigt und BrĂŒcken zu Autoren geschlagen, die in ihrem lyrischen SelbstverstĂ€ndnis verwandt erscheinen. „In meiner Arbeit geht es darum, eine Vielzahl jener PuzzlestĂŒcke, die Mayröckers Lyrik ausmachen, zu einem Gesamtbild zu vereinen“, resĂŒmiert De Felip. 

Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker zĂ€hlt zu den bedeutendsten Autorinnen und Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Eleonore De Felip ist Literaturwissenschaftlerin an der UniversitĂ€t Innsbruck. Sie kannte Mayröcker persönlich und setzt sich seit Jahren insbesondere mit der lyrischen Kunst der Autorin auseinander.

Zum 100. Geburtstag ist das erste umfassende Handbuch zu Mayröcker im Springer Verlag erschienen.

Intensives Licht, intensive Emotionen

Die Begriffsgeschichte der IntensitĂ€t war in der Neuzeit zuerst durch einen Gebrauch in den Naturwissenschaften geprĂ€gt, als es galt, graduell verlaufende Unterschiede – etwa bei der StĂ€rke des Lichts – zu benennen. Im 18. Jahrhundert, als die Gedanken der AufklĂ€rung und der emotionalen Empfindung Europas Literaturen prĂ€gten, wurde der Begriff auf PhĂ€nomene des Innenlebens ĂŒbertragen, um GefĂŒhlszustĂ€nde und Sinneswahrnehmungen zu beschreiben. SpĂ€ter, im 20. Jahrhundert, werden die „IntensitĂ€ten“ in der Kunstphilosophie von Gilles Deleuze nicht nur zum SchlĂŒsselbegriff fĂŒr das Erleben von Empfindungen, sondern auch fĂŒr eine Kunst, die ĂŒber die Darstellung von RealitĂ€t hinausgehen will.

In Bezug auf eine Denkfigur einer lyrischen IntensitĂ€t hebt De Felip eine NĂ€he Mayröckers zu Dichterkollegen frĂŒherer Epochen hervor. „Sie sah sich wohl als eine Nachfolgerin von Friedrich Hölderlin, dessen Leben und Werk von intensiven Kontrasten geprĂ€gt ist. Ekstase und Verzweiflung, GlĂŒck und Schmerz liegen in seiner Dichtung nah beieinander. Aber auch bei Georg Trakl oder Paul Celan ist diese IntensitĂ€t der Wahrnehmung zu spĂŒren“, skizziert die Literaturwissenschaftlerin. „Sie bilden eine Traditionslinie, in die sich auch Mayröcker einfĂŒgt.“

Ein weiterer roter Faden, der fĂŒr De Felip ins Wesen der lyrischen Kunst Mayröckers fĂŒhrt, ist jener der Melancholie. „Bereits in der Antike wurde ein ,saturnisch-melancholischer‘ Menschentypus ausgemacht, der einerseits zu großen Taten und geistigen HöhenflĂŒgen fĂ€hig ist, andererseits aber tiefen Ängsten verfallen kann – was heute an bipolare Erscheinungen im GefĂŒhlsleben von Menschen erinnert“, vergleicht De Felip. Die Neuropsychologie kennt mittlerweile das Konzept der HochsensibilitĂ€t. Es beschreibt Menschen, die EindrĂŒcke stĂ€rker oder weniger gefiltert wahrnehmen und diese auch vielleicht tiefgehender verarbeiten. „Solche Menschen sind durch stĂ€ndige Überforderung bedroht und brauchen viel Ruhe – fĂŒr mich ist das auch eine neue Verbindung zu Mayröcker, deren Leben von diesem RĂŒckzug geprĂ€gt ist“, sagt De Felip.

Friederike Mayröcker und Ernst Jandl im Garten auf einer schwarz-weiß-Aufnahme
Friederike Mayröcker und Ernst Jandl einte nicht nur eine kĂŒnstlerische Gemeinschaft. Sie teilten auch ihr privates Leben ĂŒber knapp fĂŒnf Jahrzehnte. Wenige Tage vor dem Tod ihres LebensgefĂ€hrten verfasste Mayröcker das Gedicht „DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE“. © Ă–sterreichische Nationalbibliothek

Angst vor dem Tod, Hingabe ans Leben

Die Literaturwissenschaftlerin zeigt anhand eines Gedichtes Mayröckers, in dem diese und weitere Aspekte zusammenfließen, exemplarisch, wie sich lyrische IntensitĂ€t entfalten kann. Wenige Tage vor dem Tod ihres LebensgefĂ€hrten Ernst Jandl schrieb Mayröcker das hochemotionale Gedicht „DIES, DIES, DIES ...“, das fĂŒr De Felip von „ekstatischer Trauer“ zeugt. 

Friederike Mayröcker liest

DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE

an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin eines

Junihimmels dessen BlÀue in Wellen gebauscht und mit tiefen

Schwalben: ich meine trunken und zuweilen verborgen, scheinen

sich zu verbergen in irgend Buchten und Malven HolunderbÀumen:

(...)

Das Gedicht, das an seiner OberflĂ€che die Schönheit eines Junitags trĂ€gt und eine Symphonie an SinneseindrĂŒcken wiedergibt, entwickelt eine ungeheure sprachliche Sogwirkung. „Ich sehe in diesem Gedicht zwei widerstrebende Bewegungen: Da ist der drohende Tod, nicht nur ihres liebsten Menschen, sondern in letzter Konsequenz auch ihrer selbst. Um ihn ertragen zu können, reagiert das lyrische Ich mit der absoluten und mystischen Hingabe an das Sein, das sich in der ĂŒberirdischen Schönheit eines Junitags versinnbildlicht“, skizziert De Felip. „Es ist wie ein Nahtoderlebnis, bei dem man in den vermeintlich letzten Sekunden das Leben in seiner TotalitĂ€t erfĂ€hrt.“  

Eine Mechanik der IntensitÀt

Diese scheinbaren Kontraste und WidersprĂŒchlichkeiten erzeugen eine immense Spannung, die Mayröckers lyrische IntensitĂ€t hervorbringt. „Ein Gedicht hat ein Thema, einen Grundton. Die Sprache bewegt sich von diesem Grundton in Ă€ußerster Spannung weg und wieder zu ihm hin“, erklĂ€rt De Felip den semantischen Mechanismus dahinter. „Wenn Wort und Inhalt deckungsgleich sind, wie etwa in einer Gebrauchsanweisung, empfinden wir den Text nicht als intensiv. Bewegt sich aber die Sprache vom semantischen Zentrum weg, etwa um Metaphern zu malen, empfinden wir sie als poetisch. Je grĂ¶ĂŸer die Distanz, desto intensiver der Text. Wird allerdings der Abstand zu groß, kollabiert diese IntensitĂ€t vielleicht, weil uns das VerstĂ€ndnis abhandenkommt.“

Mayröcker konnte nicht nur ihre hochgradig feinfĂŒhligen EindrĂŒcke – sowohl jene der sinnlichen Welt als auch ihres Innenlebens – meisterhaft in Sprache verwandeln. Sie hatte auch das einzigartige Talent, diese Spannung, die der Lyrik innewohnt, zu einer enormen Weite aufzudehnen, ohne ihre Leser:innen dabei zu verlieren.

Zur Person

Eleonore De Felip studierte Germanistik und Klassische Philologie in Wien und Innsbruck und promovierte ĂŒber Ilse Aichingers Dialoge „Zu keiner Stunde“. Die aus Bozen in SĂŒdtirol stammende Wissenschaftlerin arbeitet als Senior Scientist am Institut fĂŒr Klassische Philologie und Neulateinische Studien der UniversitĂ€t Innsbruck, davor war sie am Forschungsinstitut Brenner-Archiv tĂ€tig. Ihr Projekt „Zur ,poetischen IntensitĂ€t‘ von Friederike Mayröckers Lyrik“ wurde von 2015 bis 2022 im Rahmen des Elise-Richter-Programms des Wissenschaftsfonds FWF mit insgesamt 310.000 Euro gefördert.

Publikationen

Umarmungen, KinderbĂŒcher, Tiere, TrĂ€nen. Vier Texte, in: Alexandra Strohmaier, Inge Arteel (Hg.): Mayröcker-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Springer 2024

Metaphern gegen den Tod. Friederike Mayröckers ekstatische Trauergedichte, in: Gianna Zocco (Hg.): XXI. Congress of the ICLA - Proceedings, Bd. 4: The Rhetoric of Topics and Forms. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021

„von der nassen Papiermanschette des Mondes“. Die IntensitĂ€t der verborgenen Dinge bei Friederike Mayröcker, in: Inge Arteel, Eleonore De Felip (Hg.): Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie. Stuttgart: J. B. Metzler 2020

Ausstellung im Literaturmuseum Wien
18. April 2024 – 16. Februar 2025

"ich denke in langsamen blitzen" 
Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin 

 

Mayröcker-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung

hg. von Alexandra Strohmaier und Inge Arteel
Springer Verlag 2024