Das Gedicht, das an seiner OberflĂ€che die Schönheit eines Junitags trĂ€gt und eine Symphonie an SinneseindrĂŒcken wiedergibt, entwickelt eine ungeheure sprachliche Sogwirkung. âIch sehe in diesem Gedicht zwei widerstrebende Bewegungen: Da ist der drohende Tod, nicht nur ihres liebsten Menschen, sondern in letzter Konsequenz auch ihrer selbst. Um ihn ertragen zu können, reagiert das lyrische Ich mit der absoluten und mystischen Hingabe an das Sein, das sich in der ĂŒberirdischen Schönheit eines Junitags versinnbildlichtâ, skizziert De Felip. âEs ist wie ein Nahtoderlebnis, bei dem man in den vermeintlich letzten Sekunden das Leben in seiner TotalitĂ€t erfĂ€hrt.â
Eine Mechanik der IntensitÀt
Diese scheinbaren Kontraste und WidersprĂŒchlichkeiten erzeugen eine immense Spannung, die Mayröckers lyrische IntensitĂ€t hervorbringt. âEin Gedicht hat ein Thema, einen Grundton. Die Sprache bewegt sich von diesem Grundton in Ă€uĂerster Spannung weg und wieder zu ihm hinâ, erklĂ€rt De Felip den semantischen Mechanismus dahinter. âWenn Wort und Inhalt deckungsgleich sind, wie etwa in einer Gebrauchsanweisung, empfinden wir den Text nicht als intensiv. Bewegt sich aber die Sprache vom semantischen Zentrum weg, etwa um Metaphern zu malen, empfinden wir sie als poetisch. Je gröĂer die Distanz, desto intensiver der Text. Wird allerdings der Abstand zu groĂ, kollabiert diese IntensitĂ€t vielleicht, weil uns das VerstĂ€ndnis abhandenkommt.â
Mayröcker konnte nicht nur ihre hochgradig feinfĂŒhligen EindrĂŒcke â sowohl jene der sinnlichen Welt als auch ihres Innenlebens â meisterhaft in Sprache verwandeln. Sie hatte auch das einzigartige Talent, diese Spannung, die der Lyrik innewohnt, zu einer enormen Weite aufzudehnen, ohne ihre Leser:innen dabei zu verlieren.
Zur Person
Eleonore De Felip studierte Germanistik und Klassische Philologie in Wien und Innsbruck und promovierte ĂŒber Ilse Aichingers Dialoge âZu keiner Stundeâ. Die aus Bozen in SĂŒdtirol stammende Wissenschaftlerin arbeitet als Senior Scientist am Institut fĂŒr Klassische Philologie und Neulateinische Studien der UniversitĂ€t Innsbruck, davor war sie am Forschungsinstitut Brenner-Archiv tĂ€tig. Ihr Projekt âZur ,poetischen IntensitĂ€tâ von Friederike Mayröckers Lyrikâ wurde von 2015 bis 2022 im Rahmen des Elise-Richter-Programms des Wissenschaftsfonds FWF mit insgesamt 310.000 Euro gefördert.
Publikationen
Umarmungen, KinderbĂŒcher, Tiere, TrĂ€nen. Vier Texte, in: Alexandra Strohmaier, Inge Arteel (Hg.): Mayröcker-Handbuch: Leben â Werk â Wirkung. Springer 2024
Metaphern gegen den Tod. Friederike Mayröckers ekstatische Trauergedichte, in: Gianna Zocco (Hg.): XXI. Congress of the ICLA - Proceedings, Bd. 4: The Rhetoric of Topics and Forms. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021
âvon der nassen Papiermanschette des Mondesâ. Die IntensitĂ€t der verborgenen Dinge bei Friederike Mayröcker, in: Inge Arteel, Eleonore De Felip (Hg.): Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie. Stuttgart: J. B. Metzler 2020