Der Jodler und das Alphorn haben enge musikalische Beziehungen. © Peter Ogilvie/Unsplash

Im 19. Jahrhundert, nachdem Tiroler Sängergruppen das Jodeln international bekannt und populär gemacht hatten, wurde das Tiroler Lied mit Jodelteil auch in der Schweiz beliebt. Hundert Jahre später, anfangs 20. Jahrhunderts, gründeten Schweizer Jodelexperten den Eidgenössischen Jodlerverband (EJV), um das schweizerische Jodeln zu fördern und um den unerwünschten Einfluss aus Tirol, der Tirolerei genannt wurde, einzudämmen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Jodellied ausgehend von Tirol bereits in Europa und den USA populär geworden. Die Bemühungen der Schweizer ihre Volksmusik zu fördern, erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als nationalistisches Denken erstarkte. So wurde das Jodeln seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr für politische Zwecke instrumentalisiert. „Zudem wurde das Jodeln von einigen Jodelexperten als urdeutsches Kulturgut definiert“, erläutert Raymond Ammann von der Universität Innsbruck. In dem soeben abgeschlossenen und vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Tirolerei in der Schweiz“ hat der Musikethnologe die historische Entwicklung des Jodelns in Tirol und der Schweiz unter anderem in Hinblick auf gesellschaftliche Aspekte untersucht.

Identitätsstiftende Funktion

So zeigen Ammanns Forschungen etwa, dass das Jodeln in Tirol zu Zeiten der Napoleonischen Kriege identitätsstiftende Funktion sowohl erfüllte, wo es als akustisches Symbol für die Rebellion gegen die französischen und bayrischen Truppen fungierte. In der Schweiz wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts eigens Volksmusikfeste, wie die Unspunnenfeste in Interlaken bei Bern, veranstaltet, um die eigenen Volkstraditionen hochleben zu lassen und um die Stadt- und Landbevölkerung zu vereinigen. Solche Maßnahmen sicherten das Überleben des Jodelns in der Schweiz. Doch konkrete Schritte, um die schweizerische Jodelart stärker zu fördern und das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz beliebt gewordene Tiroler Lied mit Jodelteilen zurückzudrängen, wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbands unternommen.

Vom Patriotismus zum Befreiungsschrei

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts benutzten die Regierungen Volks- und Jodellieder in beiden Ländern für ihre Zwecke, bekanntlich aus unterschiedlichen Beweggründen. In Österreich wurde das Singen und Jodeln während des Nationalsozialismus zu einer patriotischen Gewissenssache und vom Regime auf verschiedene Weise unterstützt. In der Schweiz erschien 1943 die erste schriftliche Anleitung (Schulungsgrundlage) für Jodeln, die es in eine eigene, von der deutsch-österreichischen zu unterscheidende Form bringen wollte, um auf dieser Ebene die nationale Identität zu bekräftigen und die Distanz zu den nationalsozialistisch geprägten Staaten zu unterstreichen. Später, in den 1960er- und 1970er-Jahren, wurde das Jodeln von den Stadtbewohnern als „musikalischer Patriotismus“ angesehen und interessierte den Großteil der urbanen Bevölkerung nicht. In den vergangenen Jahren jedoch hat das Jodeln eine überraschende Interessenszunahme unter neuen Vorzeichen erfahren. Mehr noch als das – es war noch nie so populär wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts und findet nun auch Anhängerinnen und Anhänger in einer urbanen Mittelschicht. Das Jodeln, Dudeln und Juchezen hat in den modernen Lifestyle Einzug gefunden und wird ganz ohne Berührungsängste mit Wandern und auch mit Yoga, Qi Gong oder Pilates kombiniert, und als therapeutisches Mittel nach dem Motto „Jodle dich frei“ eingesetzt. „Das Jodeln ist heute verbindend und dient nicht mehr zur Abgrenzung“, bestätigt Raymond Ammann. Menschen, die sich neu dafür interessieren, verstehen das Jodeln nicht als Mittel der kulturellen Abgrenzung und Identitätsbildung, sondern als eine Möglichkeit, um neue persönliche, musische Erfahrungen – sowohl alleine, als auch in einer Gruppe – zu sammeln.

Einmal Weltmusik und retour

Wie es zu diesem Trend kommen konnte, erklärt der Wissenschaftler anhand der jüngeren Musikgeschichte. „Aus dem Austropop ging die Neue Volksmusik hervor, mit anfangs satirischen Inhalten, und die in den 1990er-Jahren durch ihren Heimatbezug und ihre musikalische Intensität bei den Zuhörern Gemütsbewegungen auslöste.“ Gleichzeitig habe es die Welle der Weltmusik gegeben, erklärt Ammann. Das brachte mit sich, dass die Menschen offener für Popularmusik aus fremden Regionen wurden, was wiederum das Interesse an musikalischen ‚Exotismen‘ aus der nahen Umgebung weckte. Bei dieser ‚Neuen Jodelbegeisterung‘ kann es schon mal vorkommen, dass sich in einem internationalen Workshop Teilnehmer aus Österreich, der Schweiz und Deutschland vereinen und für einen Jodel-Dialog über Grenzen hinweg eintreten. Die Ergebnisse des soeben abgeschlossenen Projekts werden u.a. in dem Buch „Tirolerei in der Schweiz“ nachzulesen sein, das im Frühjahr 2020 im Universitätsverlag Wagner erscheint.


Zur Person Raymond Ammann hat in der Schweiz Musikethnologie studiert und sich 2001 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck habilitiert, wo er am Institut für Musikwissenschaft lehrt und forscht. Als Musikethnologie liegen seine Forschungsschwerpunkte in der Südsee, der Polarregion und im Alpenraum.


Publikationen

Ammann, Raymond; Kammermann, Andrea & Wey, Yannick: Alpenstimmung. Musikalische Beziehung zwischen Alphorn und Jodel – Fakt oder Ideologie? Zürich: Chronos 2019
Ammann, Raymond: Die Funktionen des Alphorn-Wettblasens von den ersten Unspunnenfesten bis heute. In: Klaus Näumann, Thomas Nussbaumer, Gisela Probst-Effah (Hrsg.), Musikalische Wettstreite und Wettbewerbe (S. 67-78). Köln: Institute für Musikpädagogik und Europäische Musikethnologie, Universität zu Köln, 2018