Kinder und Frauen zĂ€hlen als Erstes zu den vulnerablen Gruppen in Krisensituationen. Doch der Begriff „vulnerabel“ hat seine Schwachstellen. Im Kontext der Menschenrechte kann das problematisch werden. © Farid Ershad/Unsplash

Der Begriff „VulnerabilitĂ€t“ ist sperrig. Zugleich können sich viele Menschen etwas vorstellen, wenn sie von einer „vulnerablen Gruppe“ hören oder lesen. Die Bezeichnung zu beschreiben, fĂ€llt da schon schwerer. „In der politischen und juristischen Debatte ist der Begriff oft nicht ausreichend definiert“, erklĂ€rt Monika Mayrhofer, Politologin am Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Grund- und Menschenrechte in Wien. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Margit Ammer und Katrin Wladasch arbeitet und forscht sie dort, wo sich Antidiskriminierung, Asyl, Migration und Klimawandel treffen.

Ein altes Konzept in neuem Kontext

„Das Konzept der VulnerabilitĂ€t kommt eher aus der naturwissenschaftlichen Forschung und wird nun in die Sozialwissenschaften ĂŒbertragen“, sagt Mayrhofer. So ist der Begriff im Bereich des Umweltschutzes schon lange in Verwendung. Im Diskurs ĂŒber Menschenrechte und in der Judikatur sind andere Begriffe, etwa Ungleichheit, weit besser etabliert. VulnerabilitĂ€t begann sich hier erst vor einigen Jahren zu verbreiten. Was die Bezeichnung in diesen Kontexten genau bedeutet, war bislang schwer zu fassen.

Das wollten die Wissenschaftlerinnen Ă€ndern. „Wir wollen herausfinden: Wovon reden wir eigentlich, wenn wir von VulnerabilitĂ€t reden? Was bedeutet der Begriff im Vergleich zu anderen wie Gleichheit, Ungleichheit und Diskriminierung und trĂ€gt seine Verwendung zur Förderung der Menschenrechte bei?“, erlĂ€utert Politologin Mayrhofer. Diesen Fragen gehen sie und ihre Kolleginnen im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojektes „Das Konzept der VulnerabilitĂ€t im Menschenrechtskontext“ seit 2019 nach.

Ein Begriff, drei Ebenen, unzÀhlige Texte und GesprÀche

Die Politikwissenschaftlerinnen analysierten den Begriff auf nationaler, europĂ€ischer und internationaler Ebene. DafĂŒr kombinierten sie theoretische Analysen und empirische Forschung. FĂŒr eine nationale Fallstudie analysierten sie Asylentscheide der jĂŒngeren österreichischen Rechtsprechung, die das Wort VulnerabilitĂ€t beinhalten. Die Juristin Margit Ammer fĂŒhrte Interviews mit heimischen Richter:innen und Rechtsvertreter:innen, um herauszufinden, wie diese VulnerabilitĂ€t verstehen und verwenden.

Um die EU-Perspektive des Begriffs zu beleuchten, analysierten die Wissenschaftlerinnen die Judikatur des EuropĂ€ischen Gerichtshofs (EuGH) und des EuropĂ€ischen Gerichtshofs fĂŒr Menschenrechte (EGMR). Mit dieser Grundlage gingen sie einem Fallbeispiel nach. Sie wollten verstehen, wie der Begriff in der EU-Erweiterungspolitik am Beispiel Albaniens verwendet wird. Dazu interviewte die Juristin und Politologin Katrin Wladasch in Tirana unter anderem Mitarbeitende der örtlichen UN-Vertretung, der EU-Kommission sowie des Council of Europe. „Was dabei besonders auffiel: Auf EU-Ebene wird der Begriff nur in der externen Menschenrechtsdimension verwendet, intern allerdings kaum“, berichtet Projektleiterin Mayrhofer.

FĂŒr die globale Ebene hat Wladasch analysiert, wie UN-Menschenrechtsorganisationen VulnerabilitĂ€t in offiziellen Dokumenten zum Thema Klimawandel verwenden. Auffallend hierbei war, dass sich der Begriff in UN-Dokumenten vermehrt auf Frauen, Kinder und Migrant:innen bezieht. Zudem wird er weit gefasst. Man spricht und schreibt von vulnerablen Institutionen, Regionen oder LĂ€ndern. In nĂ€chster Folge wird Mayrhofer Interviews mit Vertreter:innen diverser UN-Institutionen fĂŒhren, um deren VerstĂ€ndnis des Begriffs herauszuarbeiten.

Umstrittene „Verletzlichkeit“ mit Folgen

Die Verwendung des Begriffs „VulnerabilitĂ€t“, so erklĂ€rt die Politologin, ist zugleich verstĂ€ndlich und nicht unumstritten. Mit einer „vulnerablen Gruppe“ kommen viele Assoziationen auf. Doch wird der Begriff eben oft mit Gruppen verknĂŒpft. Das erschwert, Individuen zu differenzieren und sie in ihrer KomplexitĂ€t darzustellen. Dazu kommt: Vulnerabel bedeutet verwundbar. „Die Assoziationen, die das Wort hervorruft, haben Auswirkungen. Verwundbare Personen oder Gruppen brauchen Hilfe, sie sind eingeschrĂ€nkt und mĂŒssen geschĂŒtzt werden“, erlĂ€utert Mayrhofer. Ist eine Gruppe etwa vulnerabel infolge der Klimakrise und muss deswegen migrieren, spricht man ihr zu einem StĂŒck die Handlungsmacht ab. Dabei könnte man Migration auch als aktive Anpassung an den Klimawandel verstehen, also einen sogenannten Adaptions-Frame verwenden.

Auch in der Judikatur könnte die Verwendung des Begriffs weitreichende Auswirkungen haben. „Er könnte den Diskurs dorthin verlagern, dass nicht mehr jeder Mensch das Recht auf ein Asylverfahren hat, sondern nur mehr vulnerable Gruppen. In unserer Analyse fanden wir Formulierungen wie ,Er ist ein junger Mann und somit arbeitsfĂ€hig und nicht vulnerabelʜ“, erklĂ€rt die Politologin. Darauf reagieren auch Rechtsvertreter:innen, die versuchen, ihre Mandant:innen als besonders vulnerabel darzustellen.

Die Zukunft eines Begriffs

In einigen Institutionen und SphĂ€ren wendet man sich auch aufgrund dieser kritischen Punkte vom Begriff ab, sagt die Politologin: „Wir beobachten, dass der Begriff aus EU-Policys und der Kommunikation einiger UN-Institutionen verschwindet.“ So wird der UN-Sozialausschuss nicht mehr von VulnerabilitĂ€t schreiben und sprechen. Andere Institutionen ersetzen die Bezeichnung „vulnerable Gruppe“ mit „Personen in einer vulnerablen Situation“.

Mit Abschluss des Projekts im Oktober 2023 wollen die Wissenschaftlerinnen die Erkenntnisse aus den Fallstudien zusammenfĂŒhren und daraus Empfehlungen ableiten. Denn, so erklĂ€rt Monika Mayrhofer: „Wenn wir aus einer Menschenrechtsperspektive sagen wollen, dass alle Menschen gleichen Zugang zu Rechten haben sollen, mĂŒssen wir uns fragen, mit welchen Begriffen wir Ungleichheit erfassen – und ob diese Begriffe nicht zu mehr Ungleichheit fĂŒhren.“

Zur Person

Monika Mayrhofer studierte Politikwissenschaften an der UniversitĂ€t Wien. Aktuell arbeitet sie als Senior Social Science Researcher am Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Grund- und Menschenrechte. Dort forscht sie zu Klimawandel und MobilitĂ€t, Migration, Vertreibung, zu Klimapolitik und Gleichstellung, Antidiskriminierung und IntersektionalitĂ€t sowie zum EuropĂ€ischen Menschenrechtssystem. Das Projekt „Das Konzept der VulnerabilitĂ€t im Menschenrechtskontext“ (2019–2023) wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 405.000 Euro gefördert.

Publikationen

Monika Mayrhofer und Margit Ammer: Climate Mobility in Austrian Asylum Procedures (i. E.), in: Frontiers in Climate, Sec. Climate Mobility 2022

Monika Mayrhofer: Victims, Security Threats or Agents? – Framing Climate Change-related Mobility in International Human Rights Documents, in: International Journal of Law, Language & Discourse, Vol. 8, 2020 (PDF)

Monika Mayrhofer: The challenges of the concept of vulnerability in the human rights context from a discourse-analytical perspective, in: Zeitschrift fĂŒr Menschenrechte, Vol. 14 (2), 2020