Bibel-Illustration
Bibel-Illustration aus dem Buch Hiob, Johannes Mentelin, Straßburg 1466 © Österreichische Nationalbibliothek

„Die Bilder und Ornamente wirken zuweilen, als seien sie gestern erst gemalt worden.“ Wenn Michael Viktor Schwarz, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wien, über Buchmalereien redet, gerät er fast ein wenig ins Schwärmen. Im Gegensatz zu der in der Regel schlecht erhaltenen Monumental- oder Tafelmalerei ermögliche die Buchmalerei eine Erfahrung von Unmittelbarkeit. Auf dem fast unverwüstlichen Papier hätten die Bilder, durch die Buchseiten geschützt, die Zeit vielfach unbeschadet überstanden. „Wenn man eine Inkunabel aufschlägt, ist es oft, als hätten die letzten 500 Jahre nicht stattgefunden.“

„Inkunabeln“, das sind Werke aus der Anfangszeit des Buchdrucks. Genauer: aus der Anfangszeit des Buchdrucks mit beweglichen Lettern in Europa. Der Buchdruck entstand Mitte des 15. Jahrhunderts – meist wird 1454, das Erscheinungsjahr der Gutenberg-Bibel, als Startpunkt herangezogen. Eine Inkunabel ist ein Werk, das vor dem Jahr 1500 gedruckt wurde. Es geht also um die Druckerzeugnisse aus knapp 50 Jahren Menschheitsgeschichte am Übergang vom Spätmittelalter zur Renaissance – intellektuell eine hochdynamische Zeit.

Illuminierte Inkunabeln im Fokus

Die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) beherbergt eine der bedeutendsten Inkunabelsammlungen der Welt. „Es handelt sich um eine sehr große, vielfältige und in ihren Provenienzen gleichzeitig gut überschaubare Sammlung“, sagt Schwarz. „Ihr Bestand darf als repräsentativ für den deutschsprachigen Raum gelten.“ Von Ende 2016 bis Mai 2020 beschäftigte sich ein Forschungsteam der Universität Wien und der ÖNB, darunter auch Schwarz, in einem FWF-geförderten Projekt mit einem bedeutenden Teilaspekt: den illuminierten Inkunabeln. Circa 20 Prozent des Inkunabelbestands in der ÖNB sind mit Buchmalereien dekoriert.

Die grundlegende Arbeit des Projekts war eine Katalogisierung der illuminierten Inkunabeln aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts nach kunsthistorischen Kriterien. „Katalogisieren und beschreiben heißt vor allem datieren und lokalisieren“, sagt Schwarz. Wann und wo die Bücher gedruckt wurden, sei in der Regel klar. „Wann und wo die Ausmalung erfolgte und wer die Künstler waren, zuweilen auch, wer die Auftraggeber waren, kann mit den Mitteln der Kunstgeschichte bestimmt werden.“

Bibel-Illustration
Bibel-Illustration zum Buch der Makkabäer, Johannes Mentelin, Straßburg 1466 © Österreichische Nationalbibliothek

Die Anfänge der Buchindustrie

„Mit Mitteln der Kunstgeschichte“ heißt, dass dabei ein stilkritischer Ansatz zum Einsatz kommt. Laienhaft ausgedrückt bedeutet das, dass man die Malereien nach festgelegten Schemata katalogisiert und Stile identifiziert. So helfen kunsthistorische Kataloge nicht nur bei der Datierung oder der Beantwortung kunstgeschichtlicher Fragen. Sondern sie lassen auch Rückschlüsse auf die sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und somit zur Entstehung des Verlagswesens zu. So ermöglicht die Forschung einen Einblick in die beginnende Massenproduktion von Büchern und die Entstehung einer frühen „Buchindustrie“.

Während Klöster die von ihnen angekauften Drucke häufig nachträglich selbst mit Buchmalereien ausschmückten, stammte das Gros der Produktion im späten 15. Jahrhundert aus kommerziellen Werkstätten, die in irgendeiner Form mit den Druckern und Buchhändlern zusammenarbeiteten. Vereinzelt sind Namen und Biografien von Mitarbeitenden solcher Werkstätten bekannt. „In Augsburg war Johannes Bämler über viele Jahrzehnte tätig. Er hat noch vor der Zeit des Buchdrucks als professioneller Schreiber angefangen und war dann sowohl Drucker als auch Buchmaler“, sagt Schwarz. „In Österreich kennen wir Ulrich Schreier, der zunächst in Salzburg und dann in Wien arbeitete und sowohl handgeschriebene als auch gedruckte Bücher ausmalte.“ Daneben sei Schreier auch Buchbinder gewesen und habe eine Reihe hochorigineller Einbände gefertigt. Die Malereien und ein kunstvoll gestalteter Einband machten aus einem Buch ein Luxusobjekt.

Buchdruck befeuert Buchmalerei

Die Quantität und Qualität des gemalten Buchschmucks in den Inkunabeln überraschte auch die am Projekt beteiligten Wissenschaftler:innen. „Es gibt ja die Vorstellung, dass die Erfindung des Buchdrucks das Ende der Buchmalerei eingeläutet hat“, sagt Schwarz. Auf lange Sicht sei das richtig. „Aber im 15. Jahrhundert stellt sich der Buchdruck zunächst als ein großes Förderprogramm für Buchmalerei dar.“ Der Buchdruck definierte das gesamte Buchwesen neu. Die Technik senkte die Produktionskosten erheblich, in der Folge wurden sehr viel mehr Bücher produziert. Im deutschsprachigen Raum entstanden bedeutende Zentren des Buchdrucks und -handels und in weiterer Folge auch überregionale Buchmärkte. „Die zunehmende Buchproduktion hatte eine erhöhte Nachfrage nach Buchmalerei zur Folge – etwa auch in Leipzig, das damals zur Buchstadt wurde, einer Stadt der Buchherstellung, des Buchhandels und der Buchausstattung.“ Das Projekt setzte seinen Fokus dementsprechend auch auf die bedeutendsten deutschen Zentren des Buchhandels für den österreichischen Raum: Leipzig, Nürnberg und Augsburg.

Es sei eindrucksvoll, welche Wertschätzung des Mediums Buch und seiner Inhalte durch die gemalte Dekoration manifest werde, sagt Schwarz. Sie zeige, dass die Massenproduktion den Wert des Buchs nicht minderte. „Der Buchdruck führte zwar zu einer Flut an Büchern. Der Beitrag der Buchmaler zeigt aber deutlich, dass damit in den Augen der Zeitgenossen kein Wertverlust verbunden war.“ Das einzelne Buch war nach wie vor ein kostbares und mehr oder weniger für die Ewigkeit geschaffenes Objekt. Das sei ein weiterer kulturell interessanter Aspekt an der Buchmalerei. „Heute würde man wahrscheinlich sagen: Das Buch war ein nachhaltiges Objekt.“

Zur Person

Michael Viktor Schwarz promovierte 1983 an der Universität Mainz. Nach einem längeren Aufenthalt an der Bibliotheca Hertziana in Rom habilitierte er 1991 in Freiburg und trat 1998 eine Professur an der Universität Wien an. Er war Vorstand des Instituts für Kunstgeschichte und Dekan der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Seit 2015 ist er Vorsitzender des Senats.

Schwarz ist Experte für mittelalterliche Kunst. Neben der Buchmalerei liegt sein Forschungsschwerpunkt im Bereich der visuellen Medien im Christentum. Das Projekt „Illuminierte Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek. Mitteleuropäische Schulen (ca. 1475–1500)“ wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 398.000 Euro gefördert. Die daraus entstandenen Bände des kunsthistorisch-kritischen Kataloges erscheinen 2022 im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Mehr Informationen

Projektwebsite Illuminierte Inkunabeln