Sandra Müller interessierte sich ursprünglich für Informatik, bis ihre Faszination für Mathematik geweckt wurde. Die START-Preisträgerin will nichts Geringeres als die theoretische Basis, auf der die Mathematik fußt, erweitern. © Luiza Puiu/FWF

Sie beschäftigen sich mit sogenannten Woodin-Kardinalzahlen. Können Sie das Forschungsfeld kurz umreißen?

Sandra Müller: Die meisten Leute kennen natürliche Zahlen: 0, 1, 2, 3 – man kann unendlich so weiterzählen. Es können aber noch größere Zahlen als diese Form der Unendlichkeit gebildet werden. Die einfachste Variante wäre, wenn man der Menge an natürlichen Zahlen eine weitere Menge hinzufügt, nach dem Motto: unendlich + 1. Man kann aber auch eine sogenannte Potenzmenge bilden, das ist die Menge aller Teilmengen. Teilmengen der natürlichen Zahlen sind etwa alle geraden Zahlen, alle, die durch drei, durch vier teilbar sind, und viele weitere.

Der deutsche Mathematiker Georg Cantor hat vor mehr als 100 Jahren gezeigt, dass die Menge der Teilmengen der natürlichen Zahlen viel größer ist als die Menge der natürlichen Zahlen selbst. Man kann dieses Spiel weitertreiben und von den Potenzmengen wiederum Potenzmengen bilden und so weiter. Aus dieser Art von Unendlichkeiten kann man Kardinalzahlen konstruieren –, sie sind ein Mittel, das die Größe einer Unendlichkeit angibt. Woodin-Kardinalzahlen heben sich durch ihre besonderen Eigenschaften hervor. Sie erlauben unter anderem eine komplexe Art der Reproduktion von Zahlenreihen, die für die Untersuchung der Kardinalzahlentheorie relevant ist. Mathematisch kann man aber weder beweisen noch widerlegen, dass Woodin-Kardinalzahlen überhaupt existieren.

Welche Ansätze stehen zur Verfügung, wenn kein Beweis möglich ist?

Müller: In der inneren Modelltheorie konstruieren wir Standardmodelle, die untermauern, dass große Kardinalzahlen, wie zum Beispiel Woodin-Kardinalzahlen, sinnvolle Objekte und nicht beliebig sind. Das natürliche Zahlensystem basiert auf Axiomen: nicht weiter belegbaren Grundannahmen, etwa dass 2 + 1 dasselbe wie 1 + 2 ist. Derartige Axiome suchen wir auch für die Zahlenwelten der Kardinalzahlen. Bereits in den 1960er-Jahren wurden diese inneren Modelle kreativerweise „Mäuse“ genannt. Eine andere Möglichkeit ist die Beschäftigung mit dem Determiniertheitsaxiom. Man experimentiert dabei mit Gewinnstrategien in langen Zweipersonenspielen, die etwa nach der größten Zahl suchen. Die Analyse der Strategie: Ich nehme immer die Zahl des anderen und zähle eins dazu – lässt den Gewinner oder die Gewinnerin ermitteln, ohne unendlich viele Spielschritte abwarten zu müssen. Die Forschungsfelder der großen Kardinalzahlen und des Determiniertheitsaxioms haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Erst in den 1980er-Jahren wurden wesentliche Zusammenhänge zwischen den Bereichen von den US-amerikanischen Mathematikern D. A. Martin, J. R. Steel und W. H. Woodin bewiesen. Sie wurden zu den Begründern meines Forschungsgebietes. Mit zwei von ihnen werde ich im Zuge meines START-Projekts zusammenarbeiten.

Welche konkreten Forschungsfragen wollen Sie dabei beantworten?

Müller: Ich möchte den Reißverschluss weiter schließen und große Kardinalzahlen und Determiniertheit noch enger verknüpfen. Man kann Woodin-Kardinalzahlen in einer äußerst komplexen Struktur zu einem Limes verbinden – einem Grenzbereich der Unendlichkeiten. Bestehende Methoden erlauben nicht, die Eigenschaften dieser Grenzlinie zu beweisen. In meinem START-Projekt werde ich dafür neue Methoden entwickeln.

Wie sehen die ersten Schritte aus?

Müller: Ich werde im Sommer viel auf Reisen sein. Nachdem die Konferenzen coronabedingt lange nur online stattfanden, kann ich mich nun wieder persönlich mit Kolleg:innen austauschen. Das gibt mir auch Gelegenheit, potenzielle Kandidat:innen für meine Arbeitsgruppe direkt anzusprechen.

„Mein Vater hat mich dazu inspiriert, auch als Frau ein technisches Studium zu verfolgen.“

Was motiviert Sie im Forschungsalltag?

Müller: Große Kardinalzahlen und die Gewinnstrategien sind mathematische Theorien, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben und dennoch dasselbe Phänomen beschreiben. Seit ich das Problem kenne, möchte ich mehr darüber herausfinden. Als Mathematikerin habe ich keinen Job, bei dem man nach Dienstschluss die Arbeit zur Seite legt. Man nimmt das mathematische Problem immer mit. Es wird Teil von einem selbst – und dadurch kann man es auch lösen.

Haben Sie Vorbilder, die Sie in Ihrer Arbeit inspirieren?

Müller: Ich habe ursprünglich Informatik studiert und bin dann zur Mathematik gewechselt. Mein Vater hat mich dazu inspiriert, auch als Frau ein technisches Studium zu verfolgen. Er ist kein Akademiker, doch habe ich als Kind gemeinsam mit ihm oft an Computern herumgeschraubt. Im Alter von 15 Jahren habe ich erstmals an der Uni Informatik-Vorlesungen besucht. Damals habe ich nicht hinterfragt, dass ich in den Lehrveranstaltungen oft die einzige Frau war. Mein Vater hatte mir nie das Gefühl gegeben, dass das Tüfteln an Computersystemen etwas sein könnte, was eine Frau nicht kann oder tun sollte. Es ist für zukünftige Generationen wichtig, weibliche Vorbilder zu haben – etwa dass es Professorinnen in diesem Bereich gibt.


Sandra Müller schloss 2016 ihr Doktorat in Mathematik an der Universität Münster ab. Bis 2021 war sie Postdoc, Universitätsassistentin und L’Oréal Austria Fellow an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Seit 2021 ist die aus Deutschland stammende Wissenschaftlerin im Rahmen des FWF-Karriereprogramms Elise Richter am Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der Technischen Universität (TU) Wien tätig.


Zum Projekt

Das Projekt „Determinacy and Woodin limits of Woodin cardinals“ versucht, die theoretische Basis, auf der die Mathematik fußt, zu erweitern. Es zielt darauf ab, zwei verschiedene Ansätze enger zu verknüpfen: einerseits große Kardinalzahlen, die verschiedene unendlich große Mengen beschreiben, andererseits das Determiniertheitsaxiom, das Gewinnstrategien in sogenannten Zweipersonenspielen liefert.


Der START-Preis

Das Karriereprogramm des Wissenschaftsfonds FWF richtet sich an junge Spitzenforschende, denen die Möglichkeit gegeben wird, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungen zu planen. Der START-Preis ist mit bis zu 1,2 Millionen Euro dotiert und zählt neben dem Wittgenstein-Preis zur prestigeträchtigsten und höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnung Österreichs.