Der Klang des spÀten Mittelalters

âDie Stadt im SpĂ€tmittelalterâ, sagt Reinhard Strohm, âdie ist ein Ort akustischer Signale. Da schlagen die Glocken der Minoritenkirche zu einem Gebet, zu einer Vesper oder einer Messe, da erklingen die Glocken der Augustiner und vermitteln ihre Botschaften, Adelige ziehen, begleitet von Fanfaren durch die Stadt, allenthalben wird gerufen, gesungen, gebetet.â Und das ist noch nicht alles. Dazu muss man sich auch noch Hufgetrappel, Schweinegrunzen, HĂŒhnergackern, Entenschnattern, das Quietschen, Knarren, HĂ€mmern, Rumpeln, Rattern, Knattern, das Schreien, Stöhnen, Rufen, Jammern, Betteln, Bitten, Beten in allen Tonlagen und LautstĂ€rken denken und noch viel mehr. Die Stadt im SpĂ€tmittelalter und darĂŒber hinaus ist ein Platz totaler akustischer Kakophonie. â Aus heutiger Sicht oder Hörgewohnheit. Nun arbeitet Strohm, Musikwissenschafter an der Oxford University, nur in zweiter Linie am Klangraum Stadt, vor allem aber arbeitet er gemeinsam mit Birgit Lodes, Lehrstuhlinhaberin fĂŒr Historische Musikwissenschaft an der UniversitĂ€t Wien, im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts âMusikleben des SpĂ€tmittelalters in der Region Ăsterreichâ an der ErschlieĂung eines ganz anderen Klangraums.
Ăberstrahlt und zugetönt
âEs ist tatsĂ€chlich soâ, erklĂ€rt Lodes im GesprĂ€ch mit scilog, âdass man vergleichsweise wenig ĂŒber die Musik dieser Zeit weiĂ, zumal Wien und Ăsterreich so sehr von barocker Musik und noch mehr von der Wiener Klassik geprĂ€gt sind.â Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert. Sie bilden gemeinsam ein Zentralgestirn im heimischen Musikuniversum, ĂŒberstrahlen alles, definieren alles. Bis hin zu unseren Hörgewohnheiten. âDie Musik des spĂ€ten Mittelalters klingt andersâ, konzediert Lodes. Fremder, ungewohnter. Auch durch die Instrumentierung. Eindimensional ist die Musik dieser Zeit freilich nicht. âWir mĂŒssen die Variationsmöglichkeiten bedenkenâ, sagt Lodes. Dann und wann testet sie ihre Studentinnen und Studenten, gibt ihnen ein und dasselbe StĂŒck zu hören. Einmal instrumental, das andere Mal nur mit Vokalstimmen vorgetragen. âEs ist verblĂŒffend, wie selten erkannt wird, dass es sich um ein StĂŒck handeltâ, lĂ€chelt die Musikhistorikerin.
Umbruch mit Pauken und Trompeten
In gewisser Weise geht es Lodes und Strohm sowie den anderen am Projekt beteiligten Forscherinnen und Forschern auch darum, der Musik und dem Musikschaffen einer fĂŒr das europĂ€ische Geistesleben essenziellen Epoche Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen. Zwischen 1340 und 1520 bricht Europa, im wahrsten Sinne des Wortes, zu neuen Ufern auf. Neue Technologien beenden das Zeitalter der Ritter, der Kleinadel wird durch ein aufstrebendes BĂŒrgertum an den Rand gedrĂ€ngt, die StĂ€dte gewinnen an Einfluss und die UniversitĂ€ten erschlieĂen sich den Zugang zum Wissen der Antike. Kriege toben, Seuchen und Pestilenz wĂŒten, PĂ€pste treffen auf GegenpĂ€pste, Reformation auf alte Kirche. In diesen 200 Jahren bleibt kein Stein auf dem anderen. Am Ende steht die Renaissance. Alles das wird von Musik begleitet. âEuropĂ€isches Musikschaffenâ, erklĂ€rt Strohm, âist in dieser Epoche nicht mehr in nationalen oder regionalen Grenzen eingeschrĂ€nkt. In Windeseile verbreitet sich die Musik ĂŒber Europa. Nicht einmal zwölf Monate dauert es, bis die Musik zur Inthronisierung des Herzogs von Ferrara 1441 nach Wien gelangt und hier notiert wird.
Frische PopularitÀt Alter Musik
SelbstverstĂ€ndlich wird auch in Wien komponiert. So wie in Innsbruck, wohl auch in Wiener Neustadt, in Graz oder Salzburg. Auch wenn bisweilen in den Archiven so gar nichts zu finden ist, wie Lodes und Strohm bedauern. Trotzdem muss man sich jeden FĂŒrsten, zumal die Habsburger Erzherzöge und Kaiser, mit einer Kapelle denken, mit Musikerinnen und Musikern, mit SĂ€ngerinnen und SĂ€ngern, die den hohen Herrn auf seinen Reisen begleiteten, die von seinem Ruhm und Edelmut kĂŒndeten (und sich in Briefen bitterlich ĂŒber dĂŒrftige Entlohnung und widrige LebensumstĂ€nde beklagten). So tauchen Lodes und Strohm tief ein in den Alltag und damit in die LebenszusammenhĂ€nge jener Zeit. âWir sind noch immer damit beschĂ€ftigt, alle Essays zum Projekt auf die Website www.musical-life.net zu stellenâ, erklĂ€rt Strohm, wĂ€hrend Lodes darauf verweist, dass durch dieses Projekt oft erstmals MusikstĂŒcke ĂŒberhaupt aufgenommen wurden und nun ĂŒber die Website anzuhören sind. âEs wurden aus den Einspielungen sogar zwei CDs ausgekoppelt, die nun im Handel erhĂ€ltlich sindâ, freut sich die Musikhistorikerin. Darum geht es ihr, ZugĂ€nge zu schaffen, Interesse zu wecken und mit Beispielen sonder Zahl am Leben zu erhalten. Auch, um jene Musikerinnen und Musiker vor den Vorhang zu bitten, die ansonsten dem Vergessen anheimfallen. Ăberstrahlt von den Komponisten spĂ€terer Epochen.
Zur Person Birgit Lodes ist nach Stationen als Visiting Fellow an der Harvard University, als Lehrbeauftragte an der Hochschule fĂŒr Musik MĂŒnchen und als Vertretung der C3-Professur fĂŒr Musikwissenschaft an der UniversitĂ€t Erlangen-NĂŒrnberg seit 2005 UniversitĂ€tsprofessorin fĂŒr Historische Musikwissenschaft an der UniversitĂ€t Wien, korrespondierendes Mitglied der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied der Academia Europea.
Literatur und BeitrÀge